Tashakor heißt herzlichen Dank. Obwohl dieses Magazin den Titel „Anklagen!“ trägt, also Menschenrechtsverletzungen anklagen möchte, ist es wichtig, hier auch erfolgreiche Menschenrechtsarbeit zu würdigen.
Diesen Spätsommer war es wohl kaum möglich, die humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verdrängen. Viele, die die Nachrichten verfolgt haben, fühlten sich hilflos. Viele, die in Afghanistan gefangen waren, fühlten sich hilflos. Währenddessen arbeiteten ein paar mutige Vereinsmitglieder akribisch: diejenigen des afghanischen Frauenvereins. Denn sie waren in der Lage, Hilfe zu leisten. Viele, die sich hilflos fühlten, spendeten. Wie steht es derzeit um ihre Arbeit? Welche Projekte können sie mit den Spenden umsetzen? Wie konnte der Verein diejenigen, die sich hilflos in Afghanistan aufhielten (und immer noch aufhalten), unterstützen? Welchen Herausforderungen sind sie begegnet? Und wer ist der Afghanische Frauenverein überhaupt?
Ab dem 1. Mai 2021 zogen die USA all ihre 9.500 in Afghanistan stationierten Soldaten nach und nach ab. Dieser Akt stellte eine historische Zäsur dar, dauerte der Einsatz doch bereits 20 Jahre an. Er wurde nach den Anschlägen von 9/11 als Antwort auf den durch George W. Bush ausgerufenen „war on terror“ als notwendig erachtet, um die nach Afghanistan geflohenen Taliban zu verfolgen. Sie hatten Osama bin Laden und seiner al-Quaida-Organisation, welche für die Terroranschläge verantwortlich war, Schutz gewährt.
Bald zeigte der Einsatz erste Erfolge. 2004 wurden die ersten Präsidentschaftswahlen in Afghanistan abgehalten. Die Taliban formierten sich währenddessen im Süden und Osten des Landes sowie entlang der pakistanischen Grenze neu. Allerdings häuften sich zwischen 2008 und 2011 von den Taliban durchgeführte Anschläge, sodass der US-Militäreinsatz erweitert wurde. Die 2009 erneut stattfindenden Wahlen standen dabei unter dem Schatten massiven Wahlbetrugs und von Anschlägen durch die Taliban. Unter Obama stieg die Anzahl der US-Soldaten schließlich auf an die 100.000.
Nach der Ermordung Osama bin Ladens im Mai 2011 verkündete Obama, dass er die Truppen nach und nach auf eine Anzahl von 33.000 Soldaten reduzieren würde. Drei Jahre darauf wurde Ashraf Ghani in von Gewalt und Wahlbetrug geprägten Wahlen zum Präsidenten Afghanistans gewählt. Im selben Jahr beendete die NATO ihren bereits 13 Jahre währenden Einsatz, wobei allerdings eine geringe Anzahl an Truppen im Land blieb, um das afghanische Militär zu schulen.
In den folgenden Jahren spitzte sich die Lage jedoch zunehmend zu. Die Taliban kämpften sich aus ihrer Verdrängung zurück und rückten militärisch vor. Auch der sogenannte Islamische Staat wurde in der Region aktiv. Anschläge häuften sich, vor allem in der Hauptstadt Kabul. Währenddessen tobte ein innerstaatlicher Präsidialkonflikt zwischen Ghani und seinem Herausforderer Abdullah Abdullah, der die Wiederwahl Ghanis nicht anerkannte.

Trump schließlich öffnete sich für Gespräche mit der Terrororganisation. Am 29. Februar 2020 schlossen US-Delegierte in Doha ein historisches Abkommen mit den Taliban. Es wurde unter anderem beschlossen, dass alle ausländischen Militärs das Land bis Mai 2021 verlassen würden. So verließen die US-Soldaten nach und nach die militärischen Stützpunkte Afghanistans, wodurch einige NATO-Mitglieder, die ebenfalls Soldaten in Afghanistan stationiert hatten, organisatorisch überrumpelt wurden. Insbesondere der straffe Zeitplan setzte die Organisatoren unter Druck: Bis zum 31. August, symbolisch vor dem 20. Jahrestag von 9/11, sollten alle Truppen das afghanische Staatsterritorium verlassen haben.
Die neu aufgestellten Taliban nutzten diese chaotische Situation. In Windeseile eroberten sie große Teile des afghanischen Hinterlandes und trafen auf afghanische Truppen, die der Situation wohl nicht gewachsen waren. (Wissenschaftlich ist noch nicht aufgearbeitet, warum die afghanischen Truppen so wenig Widerstand leisteten.) Innerhalb nur weniger Tage nahmen die Taliban auch die größeren Städte ein, bis allein Kabul noch unter der Kontrolle der Regierung blieb. Die Hauptstadt war allerdings bereits umzingelt, Diplomaten waren evakuiert worden. Schließlich floh Präsident Ghani ins Exil. In diesem Moment übernahmen die Taliban die Kontrolle über das Land.
Die einzige Fluchtmöglichkeit bot nun der Kabuler Flughafen, an dem sich dramatische Szenen abspielten. Viel zu wenige Menschen schafften es, das Land zu verlassen. Es gab nicht genügend Flüge und die Taliban versperrten die Zugänge zum Flughafen. In der Folge wurde der gesamte Militäreinsatz stark kritisiert, Großbritanniens Verteidigungsminister beschrieb ihn als Versagen der internationalen Gemeinschaft. Auch in Deutschland wird das Scheitern der Regierung bei der Rettung von afghanischen Ortskräften aufgearbeitet.
Der Afghanische Frauenverein allerdings hat keineswegs versagt. Als Kabul eingenommen wurde und sich die Berichterstattung überschlug, wurde auch seine Lage dramatisch. Dennoch blieb der Verein aktiv. In diesen Tagen evakuierten vor Ort Mitarbeitende 1.700 Schüler:innen und pausierten mit ihren Hilfsprojekten, nur um alles dafür zu tun, sie bald möglichst unter sicheren Bedingungen wieder aufnehmen zu können.
Während all der im vorderen Abschnitt aus politischer Perspektive skizzierten Jahre hat der Afghanische Frauenverein alles gegeben, um den Wiederaufbau und Frieden in Afghanistan zu fördern. Die humanitäre Hilfsorganisation wurde 1992 in Hamburg von in Deutschland lebenden Afghaninnen gegründet, zu einer Zeit, in der die Taliban schon einmal das Land beherrschten. Sie haben besonders Frauen und Kindern durch unterschiedliche Projekte zur Verbesserung der medizinischen Versorgung, der Trinkwasserversorgung, der schulischen Bildung oder der beruflichen Ausbildung verholfen.
„Der Afghanische Frauenverein ist mit der afghanischen Bevölkerung seit 1992 bereits durch sehr schwere Zeiten gegangen. Wir werden auch in Zukunft alles dafür tun, um als humanitärer Partner in Afghanistan Leben zu retten und Entwicklung zu fördern. Dafür sind wir auf jede Hilfe angewiesen und bedanken uns bei allen, die die Bevölkerung Afghanistans in dieser schwierigen Situation nicht im Stich lassen!“, postete der Verein während der Machtübernahme Kabuls in allen sozialen Medien, in denen er vertreten war.
„Wir müssen jetzt Stunde für Stunde neu entscheiden, wann und wo wir Hilfe leisten können, ohne unsere Teams und die Menschen, die wir erreichen möchten, zu gefährden. Unsere Sorge gilt insbesondere den vielen binnenvertriebenen Frauen und Kindern in Kabul. Sie sind völlig auf sich alleine gestellt und schutzlos. Wir hoffen, unsere Nothilfe für diese Menschen schnellstmöglich fortsetzen zu können“, sagt Nadia Nashir, Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins.
Ihre Botschaft lautete: Wir waren vor Ort, wir kennen uns aus, wir können helfen!
Dementsprechend hoch war die Spendenbereitschaft unter den schockierten Beobachtenden der Ereignisse. Was passierte seitdem?
Aktuell befinden sich 190 lokale Mitarbeitende in Afghanistan. Sie versuchen, den schutzlosen Mädchen und Frauen zu helfen: Sie setzen sich dafür ein, dass die Schulen in Betrieb bleiben, und betreuen die Menschen in ihrer Angst, die Taliban könnten bald wieder grausamer vorgehen, wie damals in den 1990er Jahren. In diesen Zeiten waren Frauen praktisch entrechtet. Sie waren von Bildung und Gesundheitssystemen ausgeschlossen. „Davor fürchten sich die Mädchen und Frauen in Afghanistan jetzt“, sagt die Mitarbeiterin Christina Ihle.

Nur wenige Tage nach der Übernahme Kabuls startete der Verein mit mobilen Klinik-Teams breitflächige Überlebenshilfen für Vertriebene. Denn viele Afghanen sind geflüchtet, können aber das Land nicht verlassen. Landesweit sind zu diesem Zeitpunkt 3,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Mit Medizin, Ärzten, Care-Paketen und Trinkwasser kümmern sich die Mitarbeitenden vor Ort um sie. Doch es fehlt an allem. Der Bedarf an medizinischer und humanitärer Hilfe ist immens. „Die Kinder sind krank und mangelernährt. Viele haben Brechdurchfall“, berichtet Ihle. Noch lassen die Taliban die Helfenden gewähren. Doch sie wissen: Das kann sich jederzeit ändern. Sie können leider nur dann helfen, wenn ihre eigene Sicherheit einigermaßen gewährleistet ist, sagen sie.
Nur zwei Wochen nach der Machtübernahme der Taliban öffnen die Schulen wieder. „Wir sind sehr glücklich, dass bislang alle unsere Schülerinnen und Schüler der ersten bis sechsten Klassen wieder in unsere Schulen kommen können“, sagt Vorstandsvorsitzende Nadia Nashir. „Trotz der weiterhin fragilen Sicherheitslage auf den Straßen und der gefährlichen Schulwege sind bis zu 90 Prozent der Kinder seit der ersten Woche wieder anwesend und nehmen dafür viel auf sich. Das zeigt, wie wichtig ihnen und ihren Eltern Bildung ist – auch und besonders für die Mädchen“, sagt Nashir. „Auch 14 unserer 17 Studienstipendiatinnen konnten ihr Universitätsstudium wieder aufnehmen.“
Mit der Öffnung der Schulen sind 12 von 15 Hilfsprojekten des Afghanischen Frauenvereins wieder voll aktiv, wenn auch unter sehr erschwerten Bedingungen. „Wir müssen weiterhin stündlich die Sicherheitslage bewerten und sehr flexibel reagieren“, so Nadia Nashir.
Doch noch dürfen nicht alle Mädchen wieder zur Schule gehen und auch viele Universitäten sind noch geschlossen. Es bleibt viel zu tun.
„Auch wenn die Bedingungen unsere Arbeit deutlich erschweren, machen wir und unsere 190 Kolleginnen und Kollegen in unseren Projektregionen weiter. Wir werden alles dafür tun, auch in Zukunft an der Seite der Zivilbevölkerung und insbesondere der Mädchen und Frauen im Land zu bleiben“, hält der Verein weiterhin alle über offizielle Statements auf dem Laufenden.
Seit Ende September organisiert der Verein gemeinsam mit der australischen Nichtregierungsorganisation Union Aid den Transport sowie Starthilfen für jene Binnenvertriebenen, die gerne zurück in ihre Provinzen möchten. Dem Verein ist es wichtig, dass sie nur denjenigen Menschen helfen, die diese Hilfe auch möchten. Um die Freiwilligkeit der Rückführung sicherzustellen, führte das Team des Afghanischen Frauenvereins unter allen Geflüchteten in zwei der von ihnen betreuten Camps Einzelinterviews durch. Um den Familien die Rückkehr zu erleichtern, ermöglicht ein neues Projekt jeder Familie umgerechnet 100 Euro Starthilfe für den Wiederaufbau ihres Zuhauses, ihrer Felder und Lebensgrundlagen.
Der Afghanische Frauenverein zeigte angesichts einer humanitären Katastrophe immense Einsatzbereitschaft und konnte bisher zahlreichen Menschen in Notsituationen helfen. Der Verein ist selbst auf Hilfe in Form von Spenden angewiesen und bedankt sich dafür regelmäßig offiziell: „Tashakor – Herzlichen Dank!“ Sie haben bewiesen, dass sie die Hilfe zu nutzen wissen. Der Dank gilt vielmehr ihnen. Tashakor!
Mandy Lüssenhop
Für weitere Informationen: https://www.afghanischer-frauenverein.de
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Anklagen“ in der Ausgabe Winter 2021 der Tübinger Redaktionsgruppe von Amnesty International (klicke hier um direkt zur kostenlosen PDF-Online-Ausgabe zu gelangen).
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