Immer größer wird die Anzahl von Klimaklagen – Rechtsklagen für mehr Klimagerechtigkeit. Wer klagt hier gegen wen? Wie groß sind ihre Erfolgsaussichten?
Das Jahr 2034. Die Corona-Pandemie ist überstanden. Doch sie wurde nur von einer umfassenderen und katastrophaleren Krise abgelöst: Der anthropogene Klimawandel ist in vollem Gange. Dürre und Hochwasser vernichten die Lebensgrunde von Millionen von Menschen. Der Sitz des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag wurde nach der bereits dritten Sturmflut endgültig geräumt. Dennoch wird er in diesem Jahr Schauplatz eines wichtigen Ereignisses sein: In einem provisorischen Interimsgebäude in Berlin vertreten zwei Anwältinnen 31 Staaten des globalen Südens, die unter der Klimakrise zu kollabieren drohen. Die Angeklagte: Angela Merkel.

Foto: Julia Terjung/rbb/zero one film/ARD/dpa
Die oben beschriebene Szene ist eine Zusammenfassung des 2020 von der ARD produzierten Spielfilms mit dem Titel „Ökozid“. Er stellt die Frage nach Verantwortung über die Folgen des anthropogenen Klimawandels. Doch wer kann hier überhaupt verantwortlich gemacht werden? Ist es tatsächlich möglich, Angela Merkel für die Folgen des Klimawandels anzuklagen? Fakt ist: Hauptverursacher sind die Menschen in industrialisierten Staaten, die mit ihrem Verbrauch an fossilen Energieträgern und ihrem energieintensiven, ressourcenkonsumierenden Lebensstil für den Großteil der Emissionen von klimaschädlichen Gasen verantwortlich sind. Doch auch sie sind zunehmend selbst bedroht.
„Das Argument unserer Klage bezieht sich auf unsere Zukunft, die vom Klimawandel bedroht ist. Meine Heimat ist bedroht. Aber Angst ist nicht mein Gefühl, ich bin eher wütend. Mich nervt es, dass die Politik nichts tut. Das Klimaschutzgesetz in der jetzigen Form ist ein Witz“, sagt Sophie Backsen, Studentin aus Pellworm, die gemeinsam mit neun weiteren Kläger*innen, darunter Luisa Neubauer von Fridays for Future, und unterstützt von Greenpeace, Germanwatch und Protect the Planet, gegen die Bundesregierung klagt.
Sie sind nicht die Einzigen: Der People’s Climate Case, ein Zusammenschluss von Kläger*innen aus der ganzen Welt, darunter aus Europa, Kenia oder Fidschi, reichte 2018 Klage am Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein. Auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreichte eine Klageschrift – von Kindern und Jugendlichen aus Portugal. Die Anzahl von Rechtsklagen für mehr Klimagerechtigkeit nimmt zu.
Wer kann gegen wen, wo und warum klagen?
Der Pariser Klimagipfel von 2015 war ein Durchbruch im Kampf gegen den anthropogenen Klimawandel. 190 Staaten einigten sich auf das 1,5-Grad-Ziel, um die Treibhausgasemissionen weltweit bis zwischen 2045 und 2060 auf Null zu senken. Allerdings wurde es den einzelnen Staaten selbst überlassen, eine entsprechende Klimaschutzpolitik zu entwerfen. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Angesichts wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse über den voraussichtlichen Verlauf und die Konsequenzen des Klimawandels ist dieses Ziel kaum erreichbar. Es benötigt eine konsequentere und radikalere Klimaschutzpolitik der einzelnen Staaten (und darüber hinaus eine engere internationale Zusammenarbeit, verbindliche Sanktionsmechanismen und definitiv keine Regierungen, die den anthropogenen Klimawandel leugnen), wenn dieses Ziel überhaupt geschafft werden soll. Dementsprechend häufen sich die Klagen von Klimaativist*innen an den Gerichtshöfen, die eine schärfere Klimapolitik fordern. Und die Zeit drängt: Unter den Kläger*innen befinden sich schon jetzt vom anthropogenen Klimawandel Betroffene (siehe dazu die ANKLAGEN-Ausgabe vom Herbst 2019: „Die doppelte Ungerechtigkeit: Die Flucht vor dem Klima“ bzw. den nächsten Beitrag auf dieser Webseite).
Gegen wen kann Klage eingereicht werden? Derzeit ist die oben beschriebene Spielfilmszene rein fiktiv: Es ist nicht möglich, Klimaklage gegen Einzelpersonen – also Staatsvertreter*innen – einzureichen. Angeklagt wird im Rahmen einer Klimaklage – also einer Klage, die einen direkten Bezug zum Klima und dessen Schutz hat – immer die Regierung, allerdings nicht in Form einzelner Personen, sondern als gesamtes Verwaltungsorgan. Dabei muss sich die Klage immer konkret an diejenigen Organe wenden, die das Klimaziel aufgestellt und nichts bzw. unzureichende Maßnahmen für dessen Einhaltung getroffen haben. Die Klage kann von Privatpersonen (die meist finanziell von Vereinen oder Unternehmen unterstützt werden müssen, wobei eine Klage beim Bundesverfassungsgericht grundsätzlich kostenfrei ist), Unternehmen oder Verbänden beim Verwaltungsgericht oder Verfassungsgericht eingereicht werden. In Deutschland ist das Verwaltungsgericht in Berlin zuständig für Klimaschutzklagen. Sollte diese verfassungsrechtliche Fragestellungen involvieren, muss die Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Dabei besteht kein Anwaltszwang.

Foto: Nele Spandick
Während im europäischen Ausland, beispielsweise in den Niederlanden, schon einige Klimaklagen erfolgreich durchgesetzt wurden, läuft in Deutschland derzeit die bisher erste Klimaklage gegen die Bundesregierung – eingereicht unter anderen von Sophie Backsen: „Voriges Jahr fragte Greenpeace unsere Familie, ob wir zusammen mit zwei anderen Bauernfamilien eine Klage vor dem Verwaltungsgericht in Berlin einreichen würden. Uns fehlen vor allem konkrete Maßnahmen im Klimaschutzgesetz der Bundesregierung. Stattdessen geht mit Datteln 4 ein neues Kohlekraftwerk ans Netz.“ Die insgesamt neun Kläger*innen sehen ihr Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, welche durch den Klimawandel nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes konkret gefährdet werden, verletzt.
Generell kann eine Klimaklage unterschiedliche Forderungen enthalten. Wesentlich ist die Einhaltung der durch die Regierung gesteckten Klimaziele, um die Schutzpflicht gegenüber den Bürger*innen zu erfüllen. Im Umweltprogramm der Vereinten Nationen, das 2017 in Kooperation mit der Columbia Universität erstellt wurde, werden drei unterschiedliche Kategorien von Gerichtsverfahren zum Klimawandel beschrieben, die nach ihrem jeweiligen Ziel eingeteilt werden. Ein erstes Ziel von Klima-Gerichtsverfahren wäre es demnach, neu beschlossene Klimagesetze zur Anwendung zu bringen, wenn sie beispielsweise zwar beschlossen, aber noch nicht umgesetzt werden. Darunter fallen auch bereits bestehende Klimagesetze, die dann möglicherweise auch verändert werden müssen. Das kann vor allem dann der Fall sein, wenn sie an neu entstandene Rechte oder Pflichten angepasst werden müssen. Daneben gibt es, zweitens, jene Gerichtsverfahren, deren Ziel es ist, Druck auf den Gesetzgeber und politische Entscheidungsträger*innen auszuüben, um eine ambitioniertere Klimapolitik zu erreichen. Schließlich kann ein drittes Ziel sein, dass über Gerichtsverfahren dazu beitragen werden soll, Gesetzeslücken zu schließen, die durch gesetzgeberische und regulatorische Untätigkeit entstanden sind.
Erste Erfolge lösen eine Reihe von Niederlagen ab
„Unsere Anklage am Berliner Verwaltungsgericht wurde im Oktober 2019 abgelehnt“, bedauert Sophie Backsen. Das Gericht wies die Klage als unzulässig ab: Die Regierung hatte die Klimaschutzziele für 2020 nicht in einem Gesetz verankert, sondern in einem Klimaschutzplan. Das Gericht entschied: Die Regierung muss sich nicht an selbst gesteckte Ziele halten. Der Beschluss zum Aktionsplan Klimaschutz 2020 sei eine politische Absichtserklärung, enthalte aber keine rechtsverbindliche Regelung. Doch die Kläger*innengruppe bleibt optimistisch: „Der Richter hat gesagt, man könne Klimaschutz durchaus als Grundrecht ansehen und einklagen. Deswegen die zweite Klage, in der nur noch wir Kinder klagen. Diesmal vor dem Bundesverfassungsgericht. Unser Argument bezieht sich jetzt auf unsere Zukunft.“ Sophie und ihre Mitstreiter*innen benötigen keinen Film wie „Ökozid“, um sich ihre Zukunftsaussichten bewusst zu machen. „Durch den Klimawandel wird die Landwirtschaft immer schwieriger. Unter anderem ist Pellworm vom steigenden Meeresspiegel bedroht. Man kann die Deiche nicht unendlich hoch bauen. Das funktioniert einfach nicht.“
Neben Deutschland gibt es Länder, in denen die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels bereits heute Realität sind. Anders als die Unterzeichner*innen des Pariser Klimaabkommens, welche die Bewältigung dieser globalen Krise auf die Einzelstaaten abschoben, haben sich daher zehn Familien aus verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, Kenia und Fidschi, zusammengetan. Mit ihrem People’s Climate Case wollen sie vor dem EuGH erreichen, dass die EU, welche als Zusammenschluss vieler Industrienationen unter die Hauptverursacher des anthropogenen Klimawandels gezählt werden kann, sich strengere Klimaziele setzt. Die Kläger*innen kritisieren das bestehende Klimaziel der EU, die innereuropäischen Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 40% zu senken, als nicht ausreichend. Diese Anklage wies das Gericht am 25. März 2021 als unzulässig ab. Die Begründung: Da alle vom Klimawandel betroffen sind, seien die Kläger*innen aufgrund mangelnder individueller Betroffenheit nicht befugt, die Klimapolitik der EU vor Gericht anzufechten. Germanwatch findet diese Begründung absurd: „Da alle betroffen sind, können diese Familien nicht behaupten, dass sie besonders betroffen sind?“. Professor Gerd Winter sieht hierin auch einen positiven Aspekt: „Das EuGH erkennt an, dass jeder Einzelne vom Klimawandel betroffen ist und durch die EU-Rechtsakte in seinen Grundrechten verletzt werden kann. Die logische Folge, dann auch Zugang zur gerichtlichen Überprüfung zu ermöglichen, zieht das Gericht aber nicht.“

Foto: Greenpeace
Der Rechtsstreit des People’s Climate Case findet damit vorerst sein Ende. Mehr Erfolg hatten hingegen sechs portugiesische Kinder und Jugendliche vor dem EGMR, die im September 2020 gegen Deutschland und 32 weitere europäische Staaten Klage eingereicht hatten. Den EGMR möchten sie mit ihrem Vorwurf, Europa habe die Klimakrise verschärft und die Zukunft ihrer Generation gefährdet, dazu anhalten, die nationalen Ziele der EU-Staaten höher zu setzen und die von ihnen und ihren international tätigen Konzernen weltweit verursachten Emissionen zu reduzieren. Unterstützt werden sie vom Global Legal Action Network (GLAN), deren juristischer Berater eine Senkung der Emissionen um 65% für notwendig hält, damit die EU das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch erreicht. Letzter Auslöser für ihre Klage waren die verheerenden Brände von 2017 in ihrem Heimatland, bei denen mehr als hundert Menschen starben und riesige Waldgebiete zerstört wurden. Laut GLAN haben Experten die Rolle des anthropogenen Klimawandels bei dieser Katastrophe bestätigt. „Ich habe große Angst davor, auf einem kranken Planeten leben zu müssen“, sagt die achtjährige Klägerin Mariana Agostinho. Da es angesichts des grenzübergreifend verursachten Klimawandels für die jungen Heranwachsenden nicht möglich sei, den herkömmlichen Weg über zunächst alle europäischen inländischen Gerichte zu gehen, bevor sie den EMGR konsultieren können, wurde die Klage zugelassen. „Das gibt mir viel Hoffnung“, sagt der zwölfjährige André Oliveira. „Was ich mir wünsche, ist, dass in Europa die Regierungen sofort das tun, was die Wissenschaftler für den Schutz unserer Zukunft für notwendig halten.“
Derzeit arbeitet die Bundesregierung am Klimaschutzprogramm 2030, mit dem die Koalition sicherstellen will, dass Deutschland wenigstens sein Klimaziel für 2030 schafft – eine Treibhausgasreduktion von 55% im Vergleich zu 1990. Immerhin: Die Klage von Sophie Backsen und den neun weiteren Klimaaktivis*innen erzielte am 29. April 2021 einen Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte der jungen Generation eine Verletzung ihrer Grundrechte: Seinem Urteil nach greift das Klimaschutzgesetz des Bundes zu kurz. Die Karlsruher Richter verpflichteten nun die Bundesregierung, bis Ende 2022 die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 zu bestimmen. Letzten Endes zeigen die erfolgreichen ebenso wie die abgewiesenen Klimaklagen vor welcher Sisyphusarbeit die Klimaaktivist*innen, die Gerichte sowie die Regierungen noch stehen, um eine Klimakatastrophe, wie sie im Film „Ökozid“ für 2034 prognostiziert wird, zu verhindern.
Von Mandy Lüssenhop
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Anklagen“ in der Ausgabe Sommer 2021 der Tübinger Redaktionsgruppe von Amnesty International (klicke hier um direkt zur kostenlosen PDF-Online-Ausgabe zu gelangen).
Bildquelle Titelbild: Julia Terjung/rbb/zero one film/ARD/dpa
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