Die doppelte Ungerechtigkeit: Die Flucht vor dem Klima

Ein Zukunftsproblem, das Jetzt beginnt

„Die Völkergemeinschaft steuert schleichend, aber zielgenau auf eine humanitäre Katastrophe bisher unbekannten Ausmaßes zu.“ – Greenpeace

Rechtlich gesehen gibt es den Klimaflüchtling nicht. Weitestgehend unschuldig an der Klimaerwärmung, werden als erstes und am heftigsten die ohnehin Ärmsten dieser Welt von ihren Folgen getroffen. Sie müssen ihr weniges Hab und Gut zurücklassen, um in eine ungewisse Zukunft zu fliehen. Doch die Industriestaaten, mit etwa 80 Prozent an den historischen Treibhausgasen die Hauptverursacher heftiger klimatischer Veränderungen, lassen den vor den Konsequenzen ihres unverantwortlichen Treibens Flüchtenden bisher kaum oder nur unzureichende humanitäre Hilfe zukommen. Zudem schotten sie sich vollkommen gegen Klimaflüchtlinge ab. Es ist eine doppelte Ungerechtigkeit, gegen die unbedingt vorgegangen werden muss – und wir alle stehen in der Verantwortung.

Hilflos

„Ich konnte nichts tun, um mein Haus zu schützen, wir alle waren machtlos.“ Bulu Haldar hatte die Katastrophe kommen sehen. Ein heftiges Unwetter ließ den Fluss Pusur im Distrikt Khulna im Südwesten Bangladeschs überlaufen, die spärlichen Dämme brachen, die meist aus nur einem Zimmer bestehenden Hütten wurden mit schlammigem, braunen Wasser überflutet. Der Fluss drang in den Friedhof vor, spülte Skelette hoch und verseuchte Trinkwasservorräte. Der einst riesige Mangrovenwald hatte bislang die Folgen der Sturmfluten abgemildert, sie prallten einfach an ihm ab. Aber durch die illegale Abholzung wurden die Ränder des Waldes stark ausgedünnt, zudem verminderten Staudämme den Süßwasserzufluss in den Wald erheblich, der Salzgehalt des Wassers trocknete noch mehr Bäume aus, sodass Landwirtschaft unmöglich wurde. Als wäre dies nicht genug, führt zusätzlich der steigende Meeresspiegel dazu, dass die verflochtenen Wurzeln der Mangroven das Land nicht mehr stabilisieren können, es wird vom Meer abgetragen. Drei Inseln sind in den letzten 100 Jahren bereits verschwunden. Wie es so ist, führt das eine zum anderen: Das zunehmend salzige Wasser und die gestiegenen Temperaturen bilden den Nährboden für die Cholera. Im Frühjahr 2018 drang die Krankheit mit aller Macht in die Region ein. Dürreperioden, zunehmende Sturmfluten, explodierende Lebensmittelpreise, Hunger, sich ausbreitende Krankheiten. Mit 50 Jahren muss Bulu Haldar aus ihrer Heimat fliehen.

Auf unsicheren Fluchtwegen wie in diesem Flüchtlingsboot auf offenem Meer müssen Flüchtende ihr Leben riskieren. Quelle: Pixabay (CC)

Keine Beachtung

Bereits Humboldt stellt vor über 200 Jahren fest: Alles hängt mit allem zusammen. Der Mensch ist (nur!) Teil eines interaktiven Ökosystems. Es ist komplex und sensibel, es reagiert bereits auf die kleinsten Veränderungen. Seit den 1970er Jahren sind die Konsequenzen klimatischer Veränderungen erforscht und publiziert. Zu differenzieren sind anthropogene (durch die moderne Lebensweise des Menschen ausgelöste) und natürliche Ursachen. Obwohl sich beide gegenseitig bedingen und verstärken, gibt es eindeutig messbare Rückschlüsse auf den menschlichen Einfluss an der Zunahme der Intensität und Häufung von extremen Wetterereignissen. Deshalb wies schon damals das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) auf die wachsende Zahl an Flüchtenden infolge sich wandelnder Umweltbedingungen hin. Klimatische Veränderungen lösen Fluchtbewegungen aus. Doch die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reaktionen blieben aus.

In der Forschung gab es bis zum Jahr 2007 nur einen einzigen Umweltwissenschaftler, Norman Myers von der Oxford Universität, der Zahlen und Prognosen zu Klimaflüchtlingen veröffentlichte. Sie sind besorgniserregend: Er geht davon aus, dass es im Jahr 2050 etwa 200 Millionen Klimaflüchtlinge geben wird. 200 Millionen Menschen! 

Wohin mit all den Flüchtenden? In Flüchtlingscamps wie diesem in Eritrea sind die Flüchtenden teilweise starken Einschränkungen oder Verletzungen ihrer Menschenrechte ausgesetzt. Ihre internationale Lobby ist schwach, sie sind auf Hilfsorganisationen angewiesen, um überleben zu können. Quelle: Pixabay (CC)

Myers Schätzung ist hoch variabel, schwankt in Kontrollrechnungen zwischen 20 bis 300 Millionen, je nach Bevölkerungswachstum und Erfolg der Maßnahmen, die den anthropogenen Klimawandel eindämmen sollen – denn verhindern lässt sich dieser längst nicht mehr. Selbst sofortige, wirksame Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase können das Ausmaß von Flucht vor klimatischen Veränderungen nur noch begrenzen, aber nicht mehr gänzlich verhindern. Es wird Klimaflüchtlinge geben und es gibt sie bereits. Schon 2007 waren die 20 Millionen Klimaflüchtlinge die größte aller Flüchtlingsgruppen.

Im deutschen Asylrecht finden Klimaflüchtlinge keine rechtliche Anerkennung. Selbst das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat bis zum Jahr 2007 Myers Prognosen angezweifelt und sich nicht mit den ökologischen Ursachen von Flucht beschäftigt. Auf ihrer Webseite fand sich kein Hinweis zum Thema Klimaflüchtlinge und bei Anfragen von Greenpeace verwies die Behörde auf andere Organisationen. Überhaupt erst im Jahr 2007 wurde – ohne praktische Konsequenzen – der Begriff der Umweltmigration definiert. Doch zwischen Migration und Flucht muss definitorisch unterschieden werden, denn die beiden Phänomene trennt der signifikante Aspekt der Unfreiwilligkeit. Jeder, der flüchtet, muss die Lebensgrundlage, die er oder sie sich ihr Leben lang aufgebaut hat, zurückgelassen, um Hilfe an einem anderen Ort zu finden. Das Wort Flüchtling signalisiert die Notsituation und Schutzwürdigkeit, dem jenes der Migration nicht in dem Maße gerecht werden kann. So bleiben Klimaflüchtlinge in den nationalen und internationalen Migrationsrechten undefiniert und damit nicht anerkannt.

Sei ein Teil der Lösung und kein Teil der Umweltverschmutzung – ein Plakat einer Fridays-for-Future-Demonstration. Nur gemeinsam können wir den Folgen anthropogener klimatischer Veränderungen begegnen. Quelle: Pixabay CC

Sogar die Internationale Organisation für Migration (IOM) spricht nie von Klimaflüchtlingen, sie nutzen den Begriff der Umweltmigration. Ihre Begründung: Klimaflüchtlinge sowie innerstaatliche Flucht sind durch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht gedeckt. Auch regionale Migrationsabkommen wie die Kampala-Konvention, ein Abkommen zwischen afrikanischen Staaten, erkennen klimatische Veränderungen nicht als Fluchtgrund an. Grund genug für die IOM. Doch die Genfer Konvention ist aus dem Jahr 1951, einer Zeit, in der die Auswirkungen der Industrialisierung auf das Klima noch unbekannt waren. Noch gänzlich beeinflusst von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, gilt laut dieser als Flüchtling, wer 

„aus der begründeten Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“

Auf Nachfrage von Greenpeace, ob die IOM sich für die Anerkennung von Klimaflüchtlingen durch die Genfer Konvention einsetzt, antwortet Dina Ionesco, Referentin für Migration, Umwelt und Klimawandel bei der IOM: „Wir müssen realistisch sein. Im Moment haben die Staaten keine große Lust, die Genfer Konvention abzuändern. Deshalb versuchen auch wir das nicht.“ Eine weitere Befürchtung, die geäußert wird: Der Status des politischen Flüchtling gemäß der Genfer Konvention könne geschwächt werden, sollte der Flüchtlingsbegriff auf zu große Menschengruppen ausgedehnt werden. Aussagen wie diese sind ernüchternd und empörend zugleich. 

Man möchte entgegnen: „Die anzugtragenden Abgeordneten der Staaten haben keine Lust, sich in einen klimatisierten Konferenzraum mit Snacks und frischem Wasser zu setzen und ihren Job zu erledigen, nämlich eine den menschlichen Bedürfnissen und ihre Rechte achtende Gesellschaftsordnung zu schaffen?“ Der Mitläufer IOM sollte diese unzeitgemäßen gesellschaftlichen Konventionen kritisch hinterfragen. Wollte die IOM tatsächlich realistisch sein, würde sie die schiere Masse an flüchtigen Menschen anerkennen, anstatt sie künstlich klein zu halten. Sie würde die Realität der Millionen von Menschen anerkennen, die fliehen, weil klimatische Veränderungen ihr Überleben massiv bedrohen.

Wieso findet diese signifikante Gruppe der Klimaflüchtlinge, deren Existenzbedürfnisse massiv bedroht sind und zukünftig sein werden, rechtlich keine Beachtung, keine Hilfe?

Ökologische Ursachen und Humanitäre Konsequenzen

Umweltpolitik ist die Friedenspolitik der Zukunft.“ 

– Klaus Töpfer, ehemaliger Chef des Umweltprogramms der UN

Klimaflucht ist komplexer, als es zunächst scheint. Um dies zu verstehen, muss ein Blick auf die ökologischen Ursachen und humanitären Konsequenzen von klimatischen Veränderungen geworfen werden. Die durch klimatische Veränderungen bedingten Fluchtursachen sind vielfältig und zahlreich. Auf der einen Seite stehen ökologische Ursachen wie extreme Wetterereignisse – Erdbeben, Stürme, Überflutungen, Hitzewellen oder Dürre – sowie der steigende Meeresspiegel, u.a. durch Rückkopplungseffekte wie die Gletscherschmelze. Auf der anderen Seite können klimabedingte humanitäre Konsequenzen wie die Verschärfung von Armut, Konflikten und gesundheitlichen Risiken Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen. Das wissenschaftliche Konzept der Verwundbarkeit kann herangezogen werden, um zu verstehen, warum insbesondere sog. Entwicklungsländer ökologisch sowie humanitär vom Klimawandel stärker betroffen sind – laut Friends of the Earth Australia etwa acht Mal höher als Industriestaaten.

Der erste Faktor des Verwundbarkeits-Konzepts, die Exposition, gibt an, wie stark eine Region von Klimaveränderungen betroffen ist, was besonders in (sub-)tropischen Klimazonen der Fall ist. Betroffen sind demnach Regionen in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Süd- und Südostasien. Darunter: Vorwiegend sog. Entwicklungsländer. Viele der betroffenen Regionen sind Küstengebiete, die nur bis zu einem Meter über dem Meeresspiegel liegen. Dessen voraussichtlicher Anstieg bedroht ihren (Über)Lebensraum. Nach Untersuchungen der Weltwetter-Organisation betrug dieser im Jahr 2018 allein 3,7mm. Und die IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, dt. Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) fügt in einem Bericht hinzu: Zu diesem Wert addiert sich jährlich eine Beschleunigung von durchschnittlich 0,08 mm, die in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten war. Auf dem Inselstaat Tuvalu beispielsweise gab es regelmäßig im Februar Überschwemmungen durch Sturmfluten. Heute suchen tropische Stürme aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels die Bewohner vier Mal häufiger heim. Zusätzlich treten die Stürme heftiger auf. Durch den steigenden Meeresspiegel, das warme Klima und Überschwemmungen der landwirtschaftlichen Flächen werden viele Inseln bis 2070 unbewohnbar sein. Auch viele afrikanische Länder sind aufgrund ihrer spezifischen geografischen Lage besonders anfällig für die Folgen klimatischer Veränderungen. Die extreme Dürre in der Sahelregion führte beispielsweise in Mali unter den Bedingungen extremer Armut zur Verschärfung des Konfliktes zwischen Nomaden und sesshaften Bauern, dem (noch nicht befriedeten) Tuareg-Konflikt der 1990er Jahre. Auch in Kenia führte Wasserknappheit zu gewaltsam ausgetragenen Verteilungskonflikten zwischen nomadischen Hirten. Ein unvorstellbar grausames Szenario: Mehrere hundert durstige Menschen schießen aufeinander, verletzen sich gegenseitig, töten einander. 

Kinder wachsen teilweise über Jahre in Flüchtlingscamps auf, was starke negative Auswirkungen hat. Hier ein Eindruck aus Shikiari (Pakistan). Quelle: Pixabay (CC)

Der zweite Faktor misst den Grad der Anpassungsfähigkeit, mit den Folgen der Klimaveränderungen umzugehen. In Entwicklungsländern ist diese aufgrund ihrer oft durch koloniales Erbe schwachen Wirtschaft sowie durch fragile politische Systeme oder geringen gesellschaftlichen Wohlstands nur begrenzt ausgeprägt. Ihnen fehlen wirtschaftliche und politische Kapazitäten, um notwendige Ressourcen oder Technologien für vor- oder nachbereitende Maßnahmen gegen ein Problem dieses Ausmaßes aufbringen zu können. Der Bau von Deichen und anderen Schutzvorrichtungen ist unter den gegebenen geografischen Bedingungen oft nicht möglich, von den ökonomischen Kapazitäten ganz zu schweigen. Kiribati, eines der 22 Inselstaaten des Südpazifik, hat ein BIP pro Kopf von etwa 600 US-Dollar. Seine Möglichkeiten, sich an die globale Erwärmung anzupassen, sind äußerst gering. Dies betrifft nicht nur fehlende staatliche Kapazitäten, denn auch die in Armut lebenden Menschen können es sich in der Regel nicht leisten, beispielsweise eine Versicherung abzuschließen. Wird ihr Besitz durch eine Naturkatastrophe zerstört, ist diese Zerstörung unwiederbringlich. Deswegen fangen die Inselstaaten vorbereitend mit Umsiedlungen an. Seit 2009 werden beispielsweise etwa 2.000 Bewohner der Tulun-Inseln familienweise auf die Nachbarinsel Bougainville kontrolliert umgesiedelt, damit sie nicht als Flüchtlinge Asyl beantragen und kein gänzlich neues Leben in einer fremden Umgebung aufbauen müssen. Doch die Nachbarländer besitzen oft selbst nicht die Kapazitäten, um die Flüchtigen aufzunehmen.

Der dritte Faktor, die Sensibilität, zeigt die Reaktion auf klimatische Veränderungen. Armut macht die Menschen besonders verwundbar gegenüber den Folgen des Klimawandels. Die Überschwemmungen führen zur Versalzung der eigentlich fruchtbaren Böden und des ohnehin spärlich vorhandenen Grundwassers, einer überlebenswichtigen Quelle für Süßwasser. Zusätzlich droht eine massive Verschärfung der Hungersnot besonders bei den Menschen, die in ohnehin absoluter Armut leben und an Mangel- und Unterernährung leiden, denn der anthropogene Klimawandel wird erhebliche Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben. Die Erderwärmung schafft sprichwörtlich ein Klima, in dem Krankheiten gedeihen. Betroffen sind wieder Menschen aus Ländern mit einer schlechten Gesundheitsinfrastruktur. Langfristig könnte das zu einem verschärften Szenario eines ohnehin bereits in Grundzügen existierenden Zweiklassen-Planeten führen, auf dem die Reichen, Schönen und Gesunden signifikant bessere Überlebenschancen haben – auch in qualitativer Hinsicht, was das Führen eines würdevollen Lebens angeht. Der anthropogene Klimawandel kann dazu führen, dass durch strukturelle Ungleichheit bedingte Armut weiter verschärft wird. Manchmal ist nicht das physische Verschwinden gemeint, wenn vom Untergang der Inselstaaten die Rede ist.

All dies steht in einem krassen Gegensatz zu den in der UN-Milleniumserklärung verkündeten Zielen zur Bekämpfung von Armut, Hunger, Wassermangel und Krankheiten. Je höher die Verwundbarkeit einer Region und je geringer ihre Anpassungsfähigkeit, desto wahrscheinlicher ist Flucht als die einzig noch mögliche Anpassungsstrategie. Die Art der Umweltveränderung hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob sie zu Flucht oder Migration führt. Wenn das gesamte Land überflutet oder kein Trinkwasser mehr vorhanden ist, bleibt nur die unfreiwillige Flucht. Doch auch der Rückgang landwirtschaftlicher Erträge und in der Folge Hunger und Krankheit bei fehlenden staatlichen Sicherheitssystemen führen zu wirtschaftlichen Migrationserwägungen in der Bevölkerung. In allen Fällen bleibt den Betroffenen keine andere Wahl als ihre Heimat zu verlassen, denn unter diesen Umständen können sie kein Leben führen, das ihre Menschenwürde rechtlich garantiert. 

Der anthropogene Klimawandel ist keine Meinungsfrage! Dieses Bild zeigt die rasante Eisschmelze in Grönland. Wissenschaftliche Prognosen können Kipppunkte benennen, ab deren Erreichen mit immensen Konsequenzen zu rechnen ist. Quelle: Pixabay (CC)

Perspektiven: Was müssen und was können wir tun

Im Jahr 1943 veröffentlichte der Sozialpsychologe Abraham Maslow seine ersten Ideen über die Bedürfnisse von Menschen, welche er bis in die späten 50er Jahre weiterentwickelte. Entstanden ist das Modell einer Pyramide: Erst ganz an der Spitze dieser hierarchischen Veranschaulichung, im kleinsten Eck, steht die Selbstverwirklichung. Ein Motiv, das Flüchtenden leider häufig unterstellt wird. Es folgen die Bedürfnisse nach Anerkennung und Wertschätzung, nach sozialen Beziehungen und nach Sicherheit. Motive, welche durch die Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt werden. Den essentiellen Boden menschlicher Bedürfnisse machen Grund- und Existenzbedürfnisse aus: Atmung, Wasser, Nahrung, Schlaf, Behausung. Sind diese grundlegenden Existenzbedürfnisse durch externe Ereignisse bedroht oder zerstört, ist der reine Gedanke an alle anderen Bedürfnisse nicht möglich. Keinem Menschen dieser Welt dürfen seine Grundbedürfnisse entzogen werden, das ist rechtlich strafbar. Wer ist verantwortlich, wenn Menschenverursachte klimatische Veränderungen ihnen diese Grundlagen entziehen? 

Die Flucht vor dem Klima ist eine internationale Angelegenheit, die Koordination über nationale Grenzen hinaus erfordert. Auf die westlichen Industriestaaten fällt dabei unweigerlich eine besondere moralische Verantwortung. Denn drei Viertel der globalen CO2-Emissionen kommen aus Industrieländern, in denen nur ein Viertel der Weltbevölkerung lebt. Die Hauptlast jedoch liegt auf den Schultern der armen Staaten und Bevölkerungsteilen. Wegen ihres historischen und anhaltenden ausbeuterischen Verhaltens gegenüber der Umwelt und ihren Mitmenschen haben die westlichen Industriestaaten die Klimaflucht zu verschulden und damit zu verantworten. Sie stehen in der definitiven Pflicht, Hilfe zu leisten und die zuerst Betroffenen rechtlich als das anzuerkennen, was sie sind: Flüchtende vor den heftiger werdenden, anthropogenen klimatischen Veränderungen.

Drei Viertel der weltweiten CO2-Emissionen werden in Industrienationen ausgestoßen – für unsere Konsumkultur zahlen andere einen hohen Preis. Doch sind wir bereit, auch die Verantwortung für unsere Schuld zu tragen? Quelle: Pixabay (CC)

Zwar gibt es bereits bilaterale Abkommen zur zeitweisen Aufnahme von Menschen nach einer Naturkatastrophe. So hat sich Neuseeland im Jahr 2001 nach Verhandlungen mit einigen Inselstaaten bereit erklärt, je 75 Menschen aus Tuvalu und Kiribati sowie je 250 Menschen aus Tonga und Fiji aufzunehmen. Doch die neuseeländische Regierung bestritt, dass es sich um Klimaflüchtlinge handele, was zu Problemen bei der konkreten Umsetzung führte. Zwölf Jahre später, im Jahr 2013, fordert Ioane Teitiota von der Insel Kiribati die neuseeländische Regierung auf, ihm und seiner Familie als Klimaflüchtling Asyl zu gewähren. Als erster Mensch überhaupt verlangte er die Anerkennung von klimatischen Veränderungen als Fluchtgrund. 

In den nationalen Parlamenten muss ein Umdenken beim Migrationsrecht, bei der langfristigen Katastrophenvorsorge, beim Lastenausgleich und vielem mehr erfolgen. Der rechtliche Status von Klimaflüchtlingen muss geklärt und nationale, regionale sowie internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention erweitert werden. Zugleich muss ein Diskurs darüber stattfinden, wie klimatische Veränderungen als ein Faktor in einem komplexen Geflecht aus politischer Situation, ideologischen Konflikten oder der ökonomischen Lage als Fluchtursache anerkannt werden können. Darüber hinaus müssen Ressourcen und Mittel für diejenigen Staaten, welche die notwendigen Adaptionsleistungen an den Klimawandel nicht aus eigener Kraft aufbringen können, zur Verfügung gestellt werden. Menschen, die unter den klimatischen Veränderungen leiden, muss eine Verbesserung ihrer Lebenssituation gewährleistet werden, um zu verhindern, dass sie weiter in Armut abrutschen. Internationale Organisationen wie die Welthungerhilfe, welche humanitäre Hilfe bei Naturkatastrophen leistet und hilft, Frühwarnsysteme zu verbessern, benötigen besonders in Zukunft verstärkte Unterstützung in Form von Spendengeldern. In den Aufnahmeländern müssen Ursachen sowie Folgekosten und -probleme der Klimaflucht offen diskutiert werden können, statt bei geringsten Umsetzungsproblemen zu passen. 

Die schon jetzt 20 Millionen flüchtenden Menschen unterstreichen die absolute Notwendigkeit für die Industrieländer, eine radikale Energiewende einzuleiten, welche die soziale, ökologische und wirtschaftliche Ebene umfasst. Politik und Gesellschaft dürfen sich nicht mehr mit kleinen Reformen zufriedengeben, welche dann als zufriedenstellender Beitrag für den Klimaschutz gelten. Dies mag der Fall in den 1970er Jahren gewesen sein, als die Politik mit kleinen Reformen wie dem Einbau von Schadstofffiltern in PKWs halbherzig einen Versuch startete, zwischen der durch die Ölkrise geplagten Autoindustrie und den sich damals in der Minderheit befindenden Ökoaktivisten einen Interessenausgleich zu schaffen – oder eben mindestens in der Gesellschaft als ökologisch engagiert zu gelten, um ein möglichst breites Spektrum an Wählerstimmen zu gewinnen. Der Politiker von heute muss verstehen: Es geht jetzt nicht (mehr) um Wählerstimmen. Ein Umweltministerium reicht jetzt nicht mehr. Die Regierung muss umfassend reagieren. Grundlagen sind bereits geschaffen, die vorhandenen technologischen Alternativen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse müssen nur noch umgesetzt werden: Ökologisch verträgliche Anbaumethoden, eine Optimierung der Bewässerungssysteme, eine Reduktion der sozialen Ungleichheit, nachhaltiger Gebäudebau und Energiegewinn. Doch das Ziel zur Reduktion der klimarelevanten Emissionen um 80 Prozent bis 2050, um den anthropogenen Klimawandel auf 2 Grad Celsius zu begrenzen, läuft Gefahr, nicht erreicht zu werden. Jede nun nicht getroffene Maßnahme, um wenigstens dieses Ziel zu erreichen, wird weitere Millionen Klimaflüchtlinge zur Folge haben. Schon jetzt haben wir die Grenze von 350 parts per million (ppm) an CO2-Anteilen in der Atmosphäre, um 60 ppm überschritten. Sollen daher, auch wenn das Ziel der Klimaneutralität erreicht würde, langfristig die Küsten nicht überschwemmt und ganze Landstriche unbewohnbar werden, müssten sogar „negative Emissionen“ erzeugt, also große Mengen an CO2 aus der Atmosphäre herausgefiltert werden. Dafür existieren bereits neue technologische Entwicklungen wie das Geoengineering – die allerdings noch wenig erforscht und unter Umweltschützern umstritten sind, da sie massiv in die Umwelt eingreifen.

Die Völkergemeinschaft steht vor einer gewaltigen Herausforderung. Die Flucht vor dem Klima ist eine der Kernaufgaben der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts und kann nur durch die Zusammenarbeit der gesamten Weltgemeinschaft – auch der Zivilen – bewältigt werden. Denn schutzsuchende Menschen wie Bulu Haldar benötigen Hilfe. Schon heute.

Von Mandy Lüssenhop

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Anklagen“ in der Ausgabe Sommer 2019 der Tübinger Redaktionsgruppe von Amnesty International (klicke hier um direkt zur kostenlosen PDF-Online-Ausgabe zu gelangen). 

Bildquelle Titelbild: Pixabay CC


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Online-Ausgabe: http://www.anklagen.de
E-Mail: info@anklagen.de
Sie finden das Amnesty-Büro in der
Wilhelmstr. 105 (im Glasanbau, Untergeschoss)
72074 Tübingen
Internet: http://www.ai-tuebingen.de

Beratungstermine für Interessenten:
donnerstags um 20 Uhr (während des Semesters)
Es kann auch per E-Mail ein Termin vereinbart werden:
hsg@ai-tuebingen.de

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