Gedankenlesen-Kolumne #8 – Über schöne Momente

Willst du mal Gedanken lesen?

Geben wir es zu, alle gemeinsam: Wir alle würden manchmal gern wissen, was andere so denken. Denken tue ich viel. Schreiben auch. So lasse ich dich gern in meine Gedankenwelt eintauchen, in der Abhandlungen über soziale und kulturelle Fragen keine Seltenheit sind.

Über schöne Momente

Letztens klopfte meine Mitbewohnerin zart an meine Zimmertür. Ich saß auf meinem Bett und schrieb – ich gebe es gern zu – in meinem Tagebuch, das ich derart unregelmäßig führe, dass seine Aussagekraft in etwa nichtig ist. Ich trank aus Mangel an guter Einkaufsplanung Verdauungstee, der auch genauso roch und bat sie freudig herein.

Sie bekam selbstverständlich meine Tasse Tee und ich trank aus meinem Wasserglas. Ich freute mich, sie gab auch mir offen tiefe Einblicke in ihr Leben. Sie erzählte, wie sehr sie ihr gerade begonnenes Masterstudium genoss und wirklich humorvolle Kommilitonen hatte. 

Sie war auch wirklich daran interessiert, wie es mir geht und was mich derzeit beschäftigt. So kam es, dass wir über Dankbarkeit plauderten. 

Ich erzählte ihr von meiner Woche, die gespickt war mit zahlreichen schönen Momenten, die in mir ein tiefes, befriedigendes Gefühl der Dankbarkeit hervorriefen. 

Am Donnerstagabend kam ich vom Sport heim, was sportlicher klingt, als es tatsächlich war. Ich freue mich immer schon beim Aufschließen der Wohnungstür, einen Blick in das beleuchtete Wohnzimmer zu werfen, zu schauen, wie viele von meinen acht Mitbewohnern dort gerade sitzen und auf welche Weise sie rumalbern.

Diesen Donnerstag war es anders. Niemand saß im Wohnzimmer. Sie alle saßen mitten auf dem langen, dünnen Flur, die Beine übereinander und die weißen Wände hochgestapelt, große Klassiker der weihnachtlichen Musik klangen über Handylautsprecher noch grausiger, einen großen Kochtopf voller tomatensoßiger Spaghetti in ihrer Mitte, eine Flasche Wein herumreichend. 

Flugs setzte ich mich dazu und es wurde eine freudig-spontane, fröhliche Nacht. Bis spätabends saß ich mit zwei Mitbewohnerinnen vor den Türen der bereits Schlafenden und besprach die wirklich wichtigen Dinge im Leben, Gesprächsthemen, die nur für diese späten Stunden gemacht zu sein scheinen.

Ich hielt inne und stellte fest, wie schön dieser Moment war. Ich war dankbar. Für Mitbewohner, die mich einbeziehen, die humorvoll und locker sind, die spannend sind und mich fordern, sich umeinander kümmern, die sich für keine Alberei zu Schade sind.

Am Montagabend war ich im Theaterkurs, ich hatte einen Platz bei der freien Gruppe des Landestheater ergattert und bin wöchentlich mit vollem Elan bei den Schauspielübungen, bei denen jeder Zuschauer nur peinlich berührt wegguckt, dabei. 

Doch an diesem Montag beschäftigte mich etwas, das meine Stimmung stark drückte. Ich hatte in den Nachrichten gelesen, dass ein Appbetreiber systematisch die Reichweite von Postings reduzierte, in denen Menschen mit Behinderung oder körperlichen, unästhetischen Makeln zu sehen waren. 

Den ganzen Tag über fand ich diese Nachrichtenmeldung derart widerlich, dass ich mich in Hasstiraden ergoss. Offenbar sind Soziale Medien ein Raum der Schönen, Reichen und Jungen, die alle ausschließen, die nicht in diesen Körperkult und Wirtschaftslogik passen (wollen). Ich kann mir keine blindere Verhaltensweise vorstellen, seine willkürlichen Privilegien als in einer demokratischen Industrienation geborenen derart überheblich zur Schau zu stellen. Bei all dem Leid gibt es tatsächlich Menschen, die auch noch einen Beitrag dazu leisten, dieses Leid zu diskriminieren! 

Ich war so wütend. Über Wut haben wir auch im Theaterkurs gesprochen. Im Zuge dessen sagte die Theaterpädagogin, die unser Vorhaben koordiniert, unendlich weise Worte, über die ich nun täglich nachdenke.

Sie zeichnete ein Beispiel. Vor einer Mauer stehen drei Personen. Person Nummer Eins ist groß genug, um über die Mauer zu schauen, Person Nummer Zwei kann gerade so nicht darüber schauen und Person Nummer Drei schafft es nicht einmal hüpfend. 

Nun wird gerechterweise allen Dreien ein Hocker gegeben. Person Nummer Eins kann weiterhin über die Mauer schauen. Person Nummer Zwei kann nun über die Mauer schauen. Für Person Nummer Drei reicht es weiterhin nicht.

Nun wird Person Eins der Hocker genommen, sie braucht den Hocker nicht. Doch Person Eins fühlt sich ungerecht behandelt. Die anderen beiden Personen schließlich haben einen Hocker bekommen. Dass der Hocker der einen Person nicht einmal reicht, während sie selbst nicht einmal einen Hocker benötigt, spielt für das Gerechtigkeitsempfinden dieser Person keine Rolle, solange sie sich nicht eingesteht, dass sie einen grundlegenden Vorteil hat. 

Sie sagte: Solange wir nicht einsehen, dass wir privilegiert sind, sind wir blind für Gerechtigkeit.

Ich hielt inne und stellte fest, wie schön dieser Moment war. Ich war dankbar. Für Menschen, die scharf nachdenken und mutig diejenigen Werte vertreten, die andere Menschen ein- und nicht ausschließen, die einem Hoffnung geben.

Am Nikolaustag erhielt ich ein Päckchen, das gefüllt war mit unendlich herzwärmender Fürsorge. Es kam von meiner Tante und ihrem Ehemann, die lange nur die Schwester meines Vaters war. Seit einiger Zeit habe ich ihre ausgestreckte Hand gefasst und könnte nicht dankbarer sein für den regen Austausch, der sich seitdem ergeben hat.

In dem Päckchen befanden sich allerlei Schmaus, allesamt gesunde Naschereien und ich fragte mich, woher die beiden meine ablehnende Neutralität gegenüber zuckrigen Lebensmitteln kannten. Am schönsten fand ich ihre Karte. Die Worte waren so liebevoll gewählt, unterstützend, bestärkend, wertschätzend. 

So saß ich, ergriffen und den Tränen nahe, auf meinem Bett und empfand eine tiefe Zuneigung dafür, dass die beiden an mich gedacht hatten und sich so viel fürsorgliche Mühe dabei gegeben hatten, mich das wissen zu lassen.

Ich hielt inne und stellte fest, wie schön dieser Moment war. Ich war dankbar. Für Menschen, deren Fürsorge mich eine nicht fassbare Ergriffenheit hat fühlen lassen, die sich mir annehmen, mich bestärken und wirklich an mir interessiert sind. 

Gestern hatten meine Eltern den 27. Hochzeitstag. Ich dichtete ein paar Zeilen für sie und dachte darüber nach, was die beiden in diesen 27 Jahren zusammengehalten hatte. 

Sie haben immer aufeinander geachtet, sich Aufmerksamkeit geschenkt, gemeinsame Pläne geschmiedet, für den anderen ebenso zurückgesteckt wie sie für den anderen Begeisterung empfunden haben. Sie haben die abstrusen Eigenarten des anderen klaglos akzeptiert, gemeinsam schwierige Zeiten gemeistert, sich zueinander bekannt. Sie haben in dem anderen eine Erweiterung ihrer selbst gesehen, sich als Familie begriffen, Aufgaben aufgeteilt, Freud und Leid geteilt, sich Ziele gesetzt. 

Sie haben ein Töchterlein bekommen und es war immer klar, dass sie dieses Mädchen unterstützen würden – unabhängig davon, dass sich herausstellte, dass dieses Mädchen mit einer beeindruckenden Sturheit die abstrusesten Ideen verfolgen würde. Auch hier haben sie klaglos und mit viel Humor alle Eigenarten, schlaflosen Nächte, wie pubertären Phasen akzeptiert.

Ich dachte, dass die beiden sofort begriffen haben mussten, dass sie füreinander gemacht sind. Ich hielt inne und stellte fest, wie schön dieser Moment war. Ich war dankbar. Für Menschen, die ihre Liebe 

deren Fürsorge mich eine nicht fassbare Ergriffenheit hat fühlen lassen, die sich mir annehmen, mich bestärken und wirklich an mir interessiert sind. 

Ich habe ihnen gedankt für ihre Liebe und Fürsorge, dafür, dass sie mir ein Vorbild sind. 

Von Mandy Lüssenhop

Dieser Beitrag entstand im Zuge eines kleinen Selbstexperiments, während dem ich mich im Kolumnen-Schreiben übte. Die Kolumnen schickte ich über einen Mailverteiler zunächst an Freunde und Familie, um ausgewählte Exemplare nun zu veröffentlichen.

Bildquelle: Eigene Aufnahme

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