Willst du mal Gedanken lesen?
Geben wir es zu, alle gemeinsam: Wir alle würden manchmal gern wissen, was andere so denken. Denken tue ich viel. Schreiben auch. So lasse ich dich gern in meine Gedankenwelt eintauchen, in der Abhandlungen über soziale und kulturelle Fragen keine Seltenheit sind.
Über Unsicherheit
Es sind Semesterferien. Nachdem ich also meine Klausuren geschrieben habe, recherchiere ich nun für meine Hausarbeiten. Ich mag Hausarbeiten lieber. Für Klausuren muss ich auswendig lernen. Ich hasse auswendig lernen.
Auswendiglernen ist kein großer Akt: Durchlesen, im Stillen wiederholen, im Stillen wiederholen, im Stillen wiederholen, eine Stunde später im Stillen wiederholen, einen Tag später im Stillen wiederholen, eine Woche später im Stillen wiederholen, eine Stunde vor der Klausur im Stillen wiederholen. Die Sache ist geritzt.
Aber es ist sooooo…oooo langweilig. Dasselbe immer und immer wieder noch mal zu lesen. Für den Kopf, der bahnbrechendste aller Abendteurer, der Adrenalin-Junkie schlechthin, fühlt sich auswendig lernen an wie in Einzelhaft immer und immer wieder denselben nervigen Song, nehmen wir beispielsweise Guten Morgen Sonnenschein, zu hören.
Um am Ende: dieser Termin, zwei bis sechs Stunden, an denen all dieses Wissen ohne Hilfe in Form meiner geliebten geschriebenen Worte (alternativ: Spickzettel) abrufbar sein soll. Vergleichbar mit einer aussichtslosen Situation einer Bergwanderung, bei der man gerade von einer Lawine verschüttet worden ist und nicht abschätzen kann, wie und ob diese Situation ausgehen wird.
Wenn ich hingegen Hausarbeiten schreibe, fühle ich mich sicher und behütet wie ein Kleinkind und obendrein wie die Made im Speckmantel. Zunächst ist da die schlichte Tatsache, dass Hausarbeiten in großen Gebäuden, hunderttausenden papiernen Schätze beinhaltend, geschrieben werden: in Bibliotheken. In Bibliotheken fühle ich mich so richtig wohl. Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.
Was zudem einfach ganz wunderbar ist, ist der Arbeitsprozess: Ich darf den lieben langen Tag meine Nase in huderte Bücher stecken, Seiten über Seiten beschnuppern, Erkenntnisse inhalieren, über ihren Wert für mein Thema nachdenken, über ihre Einbettung in mein gedankliches Gesamtkonzept nachdenken, sie aufschreiben – schreiben! – und hin und wieder minutenlang an einem Gedanken hängen bleiben, der meinen Horizont erweitert. Nicht zuletzt der Kaffeeablageplatz des Schreibtisches betten mich in eine versöhnlich einlullende Illusion von ewigem Frieden. Und das ist nicht pathetisch gemeint.
Ich möchte gerne ein Bekenntnis abgeben: Ich bin eine Schreibtischmaus. In körperlich sehr aktiven Umgebungen fühle ich mich manchmal unsicher. Körperliche Aktivität ist mit viel Eigenverantwortung verbunden, ständig müssen Entscheidungen getroffen werden. Wo setze ich meinen Fuß hin? Führe ich die Bewegung richtig aus? Wo gehe ich als nächstes hin? Außerdem sind da die ständigen Hilferufe, welche die Gedanken unterbrechen: der Knöchel schreit pieeeeeks, der Bauch kkkrrmmmpffff, das Knie zzzziiiihhhhh und der Oberschenkelmuskel ist ohnehin bereits in eine vorübergehende Lethargie verfallen.
Früher wollte ich professionelle Baumkletterin werden (ja, den Job gibt es wirklich, wie ich Jahre später durch Zufall herausfand). Heute bin ich dankbar für jeden Tag, den ich im Home-Office mit Laptop auf den (nicht schmerzenden, weil keinem Todeskommando ausgelieferten) Oberschenkeln platziert im Bett verbringen kann.
Vor dem ebigen Bekenntnis stand die Erkenntnis. Sie verunsicherte mich zutiefst. Sagen nicht alle immer „Bloß niemals einen langweiligen Schreibtisch-Job?“ Sagen nicht alle immer „Körperliche Schönheit ist mit Fitness verbunden?“ Sagen nicht alle immer irgendwas darüber, wie etwas sein soll, das uns dann verunsichert, weil wir offenbar anders sind, also so, wie es sein soll?
Ja, wahrscheinlich hätte ich statt einem vornehmlich durch seine Weichheit bestechenden Bauch eine viel athletischere Figur, wenn da meine Vorliebe für jene spezielle papierne Form der Freizeitbeschäftigung nicht wäre (die ich von Herzen intendiere, zur primären Quelle meiner Erwerbstätigkeit zu professionalisieren). Vielleicht hätte ich fünf Kilo weniger auf den Rippen und vielleicht würden meine Sommersprossen einer schönen, gleichmäßigen Bräune weichen, vielleicht wäre mein Vitamin D-Spiegel höher und ich würde nicht ein mal monatlich weinend im Bett liegen und meine eigene Unzulänglichkeit beweinen. Vielleicht wäre all dies der Fall, wenn ich ein aktiveres Interesse hätte.
Aber: Bücher lassen sich eben nicht so leicht im Gehen lesen. Glaube mir, ich habe es probiert. Bei dem kläglichen Versuch, gleichzeitig das Laufband im Fitness-Studio zu bedienen und die Marx’sche Formel G – W – G nachzuvollziehen, wurde mir bewusst, dass ich nicht Multitasking-fähig bin. Und dass ich meine Mitgliedschaft im Fitness-Studio auf ewige Zeiten kündigen würde.
Diese Kolumne handelt von Unsicherheit. Als grundlegend unsicherer Mensch, dessen Unsicherheit weit über die Entscheidung zwischen verschiedenen Eissorten hinaus geht (Ist es nicht gesünder, jetzt lieber einen gefrorenen Joghurt zu essen? Wäre es nicht günstiger, einfach einen Kaffee zu trinken? Kann man Kaffee und Eis nicht auch kombinieren? Ist der März überhaupt schon die richtige Jahreszeit, in der man problemlos Eis essen kann? Ist die Eisdiele überhaupt Salmonellen-frei? Wie bitte? Was für ein Eis ich will? Ich-habe-mich-noch-nicht-entschieden-um-Himmels-willen-sprechen-Sie-mich-in-zehn-Minuten-nochmal-an!!!), möchte ich mich gern für einen offenen Umgang mit Unsicherheiten aussprechen.
Denn uns allen ist die Unsicherheit ein treuer Begleiter.
Es gibt Menschen, die lassen sich ihre Unsicherheiten nicht anmerken, doch man könnte sich gut vorstellen, dass diese Menschen von Unsicherheiten geplagt werden. Donald Trump ist so ein Mensch. Er wirkt selbstüberzeugt und weil er alles hat, was ein Mensch nur haben kann, kann ich mir gut vorstellen, dass ihn die ganze Verantwortung, die daraus resultiert, enorm unter Druck setzt. Ich würde nicht mit ihm tauschen wollen.
2016 war ich in New York und habe live die Wahlen mitverfolgt. Als Florida an die Republikaner ging und klar wurde, dass Trump das Amt des Präsidenten künftig innehaben würde, wurde seine Reaktion live auf eines der Wolkenkratzer gebeamt (die Kolumne klingt ja fast wie Sciene-Fiction, wie cool!). Die Fassungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich spürte seine Verunsicherung, seine Panik. Er hatte seine Fassung schnell wiedergewonnen und verwandelte sich zum üblichen Großkotz. Ich glaube, ich muss nicht sagen, dass wir alle es sympathischer gefunden hätten, hätte er seine selbstsichere Fassade nicht wieder aufgebaut.
Es gibt aber auch Menschen, die lassen sich ihre Unsicherheiten nicht anmerken und wir können uns beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Menschen Unsicherheiten haben. Diese Menschen wirken nicht selbstüberzeugt, sondern glücklich, zufrieden und bescheiden. Wenn wir dann herausfinden, dass auch sie tiefsitzende Unsicherheiten kennen, sind wir überrascht. Und seien wir ehrlich, wenn wir tief in uns hineinblicken, sind wir auch erleichtert. Niemand ist perfekt.
Und ja, das ist wirklich gut so. Aus unserer Unsicherheit – Achtung, hier mein Versuch, mein Plädoyer einzuleiten – resultiert Verständnis und Mitgefühl für andere, die wir als liebenswürdig begreifen. Wenn wir selbst nicht perfekt sind, müssen es andere auch nicht sein. Unsere eigene Unsicherheit hilft uns, ein realistisches Bild von unserer Umwelt zu zeichnen. Ebenso hilft es, angemessen in diesem sozialen Umfeld zu interagieren.
Absolutes Selbstbewusstsein scheint Unsicherheit zu tabuisieren. Ja, vielleicht wirkt Selbstbewusstsein anziehend. Ich glaube aber, Selbstbewusstsein ohne Zweifel ist Utopie, eine Idee, deren Verwirklichung zu negativen Effekten führt: dem Verlust von Empathie. Vor allem auch für sich selbst. Unsicherheit ist essentieller Bestandteil des Selbstbewusstseins, verstanden als Bewusstsein über sich selbst. Man könnte auch sagen: Selbstsicherheit – Sicherheit über das eigene Ich mitsamt all seinen gefühlten Unsicherheiten. Oder Selbstvertrauen – Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeit, seine Unsicherheiten zu kennen und konstruktiv mit ihnen umgehen zu können. Für mich bedeutet das, so offen wie möglich mit ihnen umzugehen.
Die Königsdisziplin mit seinen Unsicherheiten offen umzugehen ist Humor. Da ich bekanntlich weniger Humor habe als Pickel im Gesicht (Unsicherheits-Alarmstufe Rot: war das jetzt irgendwie wenigstens ein bisschen witzig? Oh bitte, bitte!), fällt mir das häufig sehr schwer. Menschen, die sich selbst nicht allzu ernst nehmen, empfinde ich als sehr angenehm und sympathisch. Ich glaube, dazu gehört, seine Unsicherheiten zu reflektieren und zu verarbeiten. Dann ist man, denke ich, sogar bereit dafür, wenn andere sich über die eigenen Unsicherheiten lustig machen.
Für mich muss niemand besonders toll sein. Noch niemand konnte mich mit immensen Reichtümern, einem prestigegeladenen Beruf oder einem 1,0er-Schnitt beeindrucken. Wenn wir andere nicht in Maßstäben von Perfektion messen, sondern nachvollziehen, wer sie warum sind, führt das zu einer reichhaltigen, zwischenmenschlichen Situation, in der weder Platz für Rivalität, noch für Idealismus ist.
Vielleicht ist Unsicherheit auch ein Weg in den Frieden. Frieden mit sich selbst. Frieden mit den Menschen. Ich plädiere dafür: Mehr Unsicherheit erlauben!
Von Mandy Lüssenhop
Dieser Beitrag entstand im Zuge eines kleinen Selbstexperiments, während dem ich mich im Kolumnen-Schreiben übte. Die Kolumnen schickte ich über einen Mailverteiler zunächst an Freunde und Familie, um ausgewählte Exemplare nun zu veröffentlichen.
Bildquelle: Eigene Aufnahme
Liebe Mandy,
Ich hoffe, es geht Dir hut. Im Moment bombardierst Du die Welt mit Emails von Deinem Blog im Minutentakt – da kann eigentlich etwas nicht stimmen, just to let you know.
Liebe Grüße
Daniel
Daniel Killy
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Hi Daniel, was sind das denn für Mails und seit wann treten sie auf? Liebe Grüße!
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