Gleiche Bildungschancen für alle – warum das nicht geht und wie wir dennoch handeln können. Ein Erfahrungsbericht über soziale Mobilität in Deutschland.
Bildungschancen sind Lebenschancen. In Art. 26 der Menschenrechte ist das Recht auf Bildung verankert. In Deutschland sehen wir dieses Recht, insbesondere aufgrund der Schulpflicht, nicht angegriffen. Dennoch gehen wir von einer Chancengleichheit aus, von der wir spätestens seit den PISA-Studien wissen, dass sie eine Illusion ist. Die Bildungsexpansion ist zwar allen sozialen Schichten (die wissenschaftliche Kategorie bezieht u.a. wirtschaftliche- sowie bildungs- und berufsabhängige Faktoren ein) zugutegekommen, doch die Ungleichheit hat sie nicht aufgehoben. Daten des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zeigen: Im Jahr 2000 gab es unter 100 Arbeiterkindern 12 Studierende, während 95 Prozent der Kinder von Beamten mit Hochschulabschluss studierten. Der Bildungsbericht aus dem Jahr 2018 attestiert: Trotz wachsender Studierendenzahlen an den Hochschulen bleiben die sozialstrukturellen Beteiligungsmuster stabil.
Ich merke häufig, dass etwas nicht stimmt, dass ich manchmal anders bin als meine Kommilitonen. Woher wissen sie all diese Dinge, von denen ich noch nie gehört habe? Wieso haben sie einen wesentlich größeren Wortschatz? Warum scheinen sie immer alles in einen größeren Kontext einbetten zu können? Ich beginne zu recherchieren und merke: Ich bin mit allen Problemen, die mit sozialer Mobilität einhergehen, konfrontiert. Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem hatte ich immer für selbstverständlich erachtet, Probleme im Bildungsbereich immer im Ausland gesehen. Dabei gehört Deutschland zur Spitzenklasse derjenigen Staaten, in denen die Leistungen zwischen dem unteren und dem oberen Quartil der sozioökonomischen Statushierarchie am weitesten auseinanderklaffen. Quartile sind statistische Werte, die eine Stichprobe in vier gleiche Teile 25%, 50% und 75% teilen.
Es geht ums Geld…
Meine Freundin fährt jede Semesterferien in den Urlaub, doch während ich das Geld für meine Reisen hart erarbeiten und zuhause rechtfertigen muss, reicht bei ihr ein Anruf bei ihren Eltern. Ich freue mich ehrlich für sie, denn ich merke: Sie hat es leichter als ich. In mir spüre ich ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Sollte nicht jeder dieselbe finanzielle und werteorientierte Unterstützung bekommen wie meine Freundin? Ich frage mich, ob das zu viel verlangt ist, schließlich können nicht alle Eltern ihre Kinder finanziell dabei unterstützen, sich selbst zu verwirklichen. Einige Eltern kommen über die minimale Grundabdeckung des Bedarfs ihrer Kinder nicht hinaus – und fühlen sich schlecht damit, dass sie ihre Kinder nicht besser unterstützen können. Anders als in den mittleren und unteren Schichten spielen die finanziellen Kosten bei den Entscheidungen der Eltern eines höheren sozioökonomischen Status’ nachweisbar keine Rolle.
Bildungs- und Einkommensunterschiede sind systematisch und historisch gewachsen. Sie sind so wahnsinnig komplex, dass sie sich nicht von heute auf morgen aufheben lassen. Sie sind hartnäckig und werden von Generation zu Generation vererbt. Studien zeigen, dass selbst nach der rechtlichen Gleichstellung von versklavten Menschen in den Südstaaten der USA im Jahr 1868 die finanziellen und Bildungsunterschiede auch heute noch immer gravierend sind. Insbesondere in den USA, in denen sich Familien für die Bildung ihrer Kinder oft lebenslang verschulden müssen, wird so Armut vererbt.
All das weiß ich nicht, als ich im zweiten Semester mein Pendlerleben von Hannover aufgebe und nach Göttingen ziehe. Ich möchte endlich das Studentenleben kennenlernen, das meine Freunde bereits seit einem Jahr leben. Meine Eltern wollten die Wohnungskosten sparen, um mir das Studium zu ermöglichen. Als ich ihnen gestand, dass ich nach dem Abitur keinen Ausbildungsberuf lernen, sondern mich an einer Universität einschreiben wollte, waren sie nicht sonderlich begeistert. Es war nicht vorgesehen. Ein Studium ist teuer. Sie dachten, ich würde jetzt eigenes Geld verdienen. Damals wusste ich nicht, dass Deutschland bezüglich der Studienkosten geradezu paradiesisch ist.

An meinem neuen Studienort fand ich schnell neue Freunde – mit denen ich mich auch verglich. Ich bemerkte schnell, dass sie von ihren Eltern Unterstützung bekamen, die ihnen viele Scherereien ersparte. Ich falle in eine Nische: Keine Geschwister, kein Vermögen, meine Eltern teilen sich ein Auto, um zur Arbeit zu fahren. Sie sind Angestellte und verdienen gerade so viel, dass ich aus dem BAföG falle. Der Bescheid: Ich bin zwar berechtigt, bekomme aber 0,00 Euro. Das stürzt mich in einen zeitaufwendigen Komplex aus Stipendiensuche, für die ich häufig nicht infrage komme, da ich zu mittelmäßig bin, Krediten, die ich meiden will, weil mir die Verschuldung den Schlaf raubt und Gelegenheitsjobs, von denen ich viele nicht lange behalten kann, weil sie mit meinem Studium kollidieren. Ich spare wie verrückt, kaufe günstig ein und bekomme ein schlechtes Gewissen, als ich von den Sozial- und Umweltkosten günstiger Preise lese. Ich streite mich mit meinem Vater, weil er mir Geld leihen muss, das er nicht hat. Während meine Kommilitonen Zeit haben, Fachzeitschriften zu lesen, verkaufe ich Döner – und werde gekündigt, weil mir „die Langeweile im Gesicht abzulesen ist“. Irgendwann bekomme ich einen Job an der Uni, ich lerne viel und weiß doch nicht genug. Ich muss mich nur härter anstrengen, denke ich, doch mir fehlen essentielle Einblicke in die Universitätsstruktur. Ich habe keinen erwachsenen Ansprechpartner mit akademischen Hintergrund, der mir auf die Sprünge
…aber auch um Psychologie
Lange bin ich uninformiert über meine strukturelle Situation. Ich studiere Soziologie und Politikwissenschaften und lese Dahrendorfs Streitschrift „Arbeiterkinder an deutschen Universitäten“. Mir geht ein Licht auf: Vielleicht sind diese Feststellungen gar nicht so veraltet, wie sie scheinen. Ich lerne auch Pierre Bourdieus Schriften kennen. Für seine Bildungsthesen entwickelt er drei Formen von Kapital: das Kulturelle, das Ökonomische und das Soziale. Zusammengenommen bilden sie den Habitus. Die bessere Kapitalausstattung in statushöheren Familien fördert die Entwicklung von Fähigkeiten und Erfolgen ihrer Kinder. Hausaufgaben machen, für Klausuren lernen, Freizeitgestaltung: Deren Ausgestaltung ist den Eltern überlassen. Doch Eltern haben nicht immer die Zeit, das Geld oder die notwendigen Kompetenzen, um ihre Kinder optimal auf ihren Bildungswegen zu begleiten. Sind Lernmotivation und –erfolg der Kinder von den Ressourcen ihrer Eltern abhängig?
Hätten zahlreiche Studien es nicht ausgiebig dargelegt, ich würde es nicht glauben wollen: Bei gleichen kognitiven Fähigkeiten haben Kinder aus Haushalten mit hohem Einkommen und akademischem Hintergrund eine fünfmal höhere Chance, von Lehrern sowie Eltern den Zuspruch und die Empfehlung zu bekommen, ein Gymnasium zu besuchen als Kinder, deren Eltern un- und angelernte Arbeiter sind. Im deutschen Schulsystem existiert ein leistungsunabhängiger sozialer Filter.
2004. Meine Mutter trinkt mit ihren Freundinnen Kaffee. Reihum bestätigen die Mütter, dass sie ihre Kinder auf jeden Fall aufs Gymnasium schicken würden. Als letzte äußert sich meine Mutter und schockiert: Meine Tochter wird auf keinen Fall das Gymnasium besuchen. Sie wusste, ich würde nicht mithalten können. Meine Eltern arbeiten beide, um unseren Lebensunterhalt zu finanzieren. Nach einem Arbeitstag warteten Aufgaben im Haushalt. Sie hatten wenig Zeit und auch wenig Muße, sich um meine Hausaufgaben zu kümmern. Mit steigenden Schuljahren waren sie selbst überfragt. Nachhilfe war teuer. Um meine Freizeitgestaltung kümmerte ich mich selbst, um die Mitgliedschaft in einem Verein oder um Musikunterricht bettelte ich vergeblich. Es war einfach nicht drin.
Ich ging auf eine Gesamtschule – und das war die beste Entscheidung, die meine Eltern hätten treffen können. Sie ermöglichte mir soziale Mobilität. Soziale Segregation (Trennung) verhindert, sich Rollenmodelle mit höheren Bildungsambitionen im Freundeskreis zu suchen. Durch die Ganztagsschulen werden fehlende elterliche Mittel kompensiert. Einige meiner damaligen Grundschulfreundinnen, die auf elterlichen Wunsch vorschnell auf das Gymnasium geschickt wurden, wechselten nach einigem Sitzenbleiben die Schule. Die ungleichen familiären Entwicklungschancen werden im konventionellen Schulsystem nicht kompensiert, sondern weiter verstärkt.
Mir wurde erst viel später bewusst, was mir die Gesamtschule ermöglichte. Ich beteiligte mich in verschiedenen AGs, lernte kochen und handwerken, spielte Theater, brachte mir selbst das Gitarrespielen bei. Dadurch, dass ich auch nachmittags in der Schule war, erkannte meine Lehrerin früh, dass ich eine ausgesprochene Leseratte war und brachte mir Bücher mit. Das System „Fördern und Fordern“ ermöglichte mir gute Noten, auch ohne Nachhilfe. Andererseits stempelte ich mich selbst als unsportlich ab. Meine Freizeit verbrachte ich ausschließlich mit meinen Freunden. Der kognitive Wert von gesunder Ernährung und sportlicher Aktivität war meinen Eltern gar nicht so bewusst. Vielmehr taten sie alles dafür, dass ich ausreichend versorgt und glücklich sei.
Das Leid und die Freud
Sofort merkte ich: Ich liebe die Wissenschaften. Doch, wie allen neuen Studierenden, fehlte mir der Überblick. Doch während meine neuen Freunde ihre Eltern fragten, füllte ich Wissenslücken und eignete mir soziale Regeln selbst an. Das Wissen um Bourdieu und Dahrendorf überzeugte mich davon, dass ich mich in einen Aufholprozess begeben müsse, um meine soziale Herkunft zu kompensieren. Ich lernte wie verrückt, las alles, was mir unter die Finger kam, nahm an jeder Informationsveranstaltung teil, die ich finden konnte. Ich stellte meine Ernährung um und kleidete mich anders. Eines Tages sprach mich eine sehr aufmerksame Freundin auf mein sehr extremes Verhalten an. Ich sah alles ein. Ich hatte meine Freunde zu Akademikern idealisiert, während ich mich mit Selbstzweifeln und finanziellen Schwierigkeiten plagte. Dazu kam, dass ich die Bindung zu meinen Eltern zu verlieren drohte: Wir konnten mit der Lebenswelt des jeweils anderen nicht mehr viel anfangen.
Ich setzte mich einen langen Nachmittag an einen See und dachte nach. Meine Eltern verstehen zwar nicht viel von meinem Studium, doch sie unterstützen mich bedingungslos. Obwohl ich zwischen zwei Welten lebe, lernte ich, dass sie beide zu mir gehören. Heute finde ich das Plus an Lebenserfahrung toll. Ich spüre eine tiefe Dankbarkeit für mein neues Wissen und Stolz darauf, dass ich mir all dies selbst beigebracht habe. Ich bin glücklich, denn ich verstehe, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass ich meiner Leidenschaft nachgehen darf. Bildung ist für den Großteil der Kinder dieser Welt etwas ganz Besonderes.

Menschenrechte gelten überall. Das deutsche Bildungssystem ist im Vergleich zu vielen anderen Staaten hervorragend und unbedingt wertzuschätzen. Allerdings haben auch in Deutschland alle ein Recht auf Bildung – und wenn es strukturelle Hindernisse für einen Teil der Bevölkerung gibt, einen Hochschulabschluss zu absolvieren, gibt es auch in Deutschland Verbesserungsbedarf. Die Menschenrechte dürfen nie als selbstverständlich angenommen werden.
Bildungsungleichheit in Deutschland existiert und muss ernst genommen werden. Zwar kann eine Reform nicht von heute auf morgen erfolgen, da strukturell vererbte soziale Ungleichheit mit der ungerechten Verteilung von Bildungschancen eng verknüpft ist. Doch mich würde es wahnsinnig freuen, wenn junge Studierende sowie Schülerinnen und Schüler nicht nur über die finanziellen sondern auch über die sozialen Schwierigkeiten aufgeklärt werden. Grundschulempfehlungen sollten später ausgesprochen und Ganztagsschulen sowie Kinder aus bildungsfernen- und Einwandererfamilien besonders gefördert werden. Da kann jeder etwas tun: Sich als Nachhilfelehrer engagieren, mit Geflüchteten arbeiten, Sportclubs für Jugendliche mit finanziellen Schwierigkeiten anbieten, Aufklärungsarbeit in Schulen und Universitäten leisten und Förderprogramme ins Leben rufen. Wichtig ist, dass die Jugendlichen um diese Maßnahmen wissen!
Mandy Lüssenhop
Ein kleines P.S. an und über meine Eltern. Leider musste dieser Artikel für das Magazin etwas gekürzt werden, sodass ein wertschätzendes Wort über euch dringend nötig ist. Um keinen Bildungshintergrund der Welt möchte ich euch eintauschen. Ihr seid selten liebevolle und aufrichtige Menschen – Werte, die kein Zertifikat der Welt auszeichnen können. Ihr seid das beste Beispiel dafür, dass Intelligenz und die Fähigkeit zum kritischen Denken, analysieren und reflektieren nicht an akademische Abschlüsse gebunden sind, sondern an Menschen. Für die Werte und Meinungen, die ihr vertretet und die ihr mir mitgegeben habt, bewundere ich euch! Ich bin euch dankbarer, als jedes Wort ausdrücken kann – dafür, was ihr für Menschen seid; dafür, was für ein Mensch ich dank euch geworden bin; für eure Liebe und für eure Unterstützung. Ich bewundere euch zutiefst.
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Anklagen“ in der Ausgabe Winter 2018 der Tübinger Redaktionsgruppe von Amnesty International (klicke hier um direkt zur kostenlosen PDF-Online-Ausgabe zu gelangen).
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