Vor über hundert Jahren beging die damalige deutsche Kolonialmacht in Namibia schlimmste Menschenrechtsverbrechen an den Herero und Nama. Bis heute wurde die Volksgruppe nicht für die systematischen Ermordungen und Enteignungen entschädigt. Doch trotz Widerständen, insbesondere aus Deutschland, kämpfen sie für ihre Rechte.
Der Humanismus „war nur eine verlogene Ideologie, die ausge- klügelte Rechtfertigung der Plünderung. (…) Dieses Geschwätz von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Ehre, Vaterland, was weiß ich. Das hinderte uns nicht daran, gleichzeitig rassis- tische Reden zu halten: dreckiger Neger, dreckiger Jude, drecki- ger Araber. (…) Unsere teuren Werte verlieren ihre Flügel, von na- hem betrachtet wird man nicht einen einzigen finden, der nicht mit Blut befleckt ist.“ – Jean-Paul Sartre
Sie gingen dem sicheren Tod entgegen, mit trockenen Kehlen. Die weißen Soldaten hatten ihre lebenswichtigen Wasserlöcher besetzt. Ihnen war bei der Ankunft in dem unwirtlichen Territorium eine Broschüre in die Hand gegeben worden, in der es hieß: „Für die Behandlung des Eingeborenen ist maßgebend, dass er nicht auf die gleiche Stufe mit dem Weißen gestellt werden darf und als ein noch nicht mündiges Glied der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden muss.“ Zehntausende starben in dem wasserlosen Sandfeld.
New York am 6. Januar 2017. Eine Sammelklage gegen die deutsche Bundesregierung erreichte ein US-Gericht, eingereicht von Vertretern der Volksgruppen der Herero und Nama aus Namibia. Sie fordern Entschädigungszahlungen wegen der Anfang des 20. Jahrhunderts begangenen Kolonialverbrechen an der Volksgruppe der Herero. Deutschland war während der Industrialisierung an der „europäischen Expansion“ beteiligt und besetzte unter anderem von 1884 bis 1915 das heutige Namibia – wo die Herero leben. Deutsch-Südwestafrika wurde die Kolonie genannt. Im 19. und 20. Jahrhundert standen weite Teile der Welt unter direkter oder indirekter europäischer Herrschaft. Gerechtfertigt wurde das territoriale Herrschaftsverhältnis häufig damit, dass die betroffenen Gebiete europäischen Werten entsprechend zivilisiert werden sollten. Die neu erschlossenen Ressourcen und Absatzmärkte haben außerdem maßgeblich zum europäischen Reichtum beigetragen. Kurz nach Ende des ersten Weltkrieges war das Festland der Erde zur Hälfte kolonialisiert, wie es die Recherchen des französischen Ökonom Arthur Grault (1865-1931) zeigen. 440 Millionen Menschen in Asien, 120 Millionen in Afrika, 60 Millionen in Ozeanien und 14 Millionen in Amerika unterstanden kolonialer Herrschaft – das waren zwei Fünftel der damaligen Weltbevölkerung. Im Jahr 1904 schließlich protestierten die Herero gegen die kolonialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Sie wurden von den „Kolonialherren“ als „Neger“ beschimpft und – nach den Worten des Plantagenbesitzers August Boshart – wie „blutdürstige, grausame Raubtiere, die nur durch das Auge und die Peitsche des Bändigers in Respekt gehalten werden können“, behandelt. Der europäische Rassismusdiskurs diente als Rechtfertigungsideologie. Die Menschen wurden einer Rassenkonstruktion unterworfen, die sie als minderwertig, primitiv und unzivilisiert stigmatisierte. Als die Herero einen Aufstand begannen, ordnete General Lothar von Trotha die Vernichtung des Stammes an: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“ Während der kämpferischen Auseinandersetzungen drängten die deutschen Schutztruppen die Herero systematisch in die Omaheke-Wüste. Laut der Wochenzeitung DIE ZEIT waren 65.000 Menschen brutal ermordet worden oder verdursteten schließlich in der Wüste. Viele Herero und Nama wurden in Konzentrationslager gesteckt, die Zahl der Toten dort lässt sich nach Angaben des Spiegels ziemlich genau auf 7682 beziffern. Nach dem Krieg waren nur noch ca. 15.000 Herero, rund ein Viertel des damaligen Herero-Stammes, am Leben.
Noch heute: Ansprüche von Deutschen auf Landbesitz in Namibia
Heute leben etwa 100.000 Herero als Minderheit in Namibia. Von den ehemaligen Kolonialisten und ihren Nachfahren sind 14.000 geblieben. Die Deutschstämmigen machen sechs Prozent der Bevölkerung aus – besitzen aber 70 % des privaten Farmlandes. Diese Generation pflegt ein antiquiertes Deutschtum, manche nennen sich bis heute „Süd- wester“ und verklären die Kolonialgeschichte. Auf das Thema Genozid reagieren sie abwehrend, mitunter aggressiv. „Wir wollen nicht ewig für die Vergangenheit in Sippenhaft genommen werden und die deutsche Blutschuld auf uns laden“, sagt ein deutschstämmiger Jagdfarmer. Viele ihrer Besitztümer sind während der Kolonialzeit durch Enteignung entstanden. Politisch gibt es seit langem fruchtlose Bestrebungen nach einer Landreform, um das Land umzuverteilen. Die Gegner der Reform, allen voran die deutschen Großfarmer, sehen ihre Eigentumsrechte verletzt: „Vielleicht ist das auch ein bisschen ihre Fanta- sie – wo auf der Welt kriegen die Indianer oder irgendwelche Aborigines ihr Land wieder zurück? Man muss ihnen natürlich schon irgend- was aushandeln und irgendwelche Zugeständnisse machen. Aber die Ländereien wieder so zurückzukriegen? Nein. Die Deutschen haben damals viel geleistet und die Ländereien aufgebaut und so weiter“, legt der namibische Großfarmer mit deutschen Wurzeln Reinhard Voigts seine Ansicht dar. „Die Ureinwohner Namibias haben Land nicht als ihren eigenen Besitz gesehen, sondern als etwas, das allen gehört“, erklärt Naita Hishoono, Direktorin des Institutes für Demokratie in Namibia. Auf struktureller Seite steht die Behauptung, dass ausländische Investoren durch eine heutige Enteignung keinen Anreiz mehr hätten zu investieren, wenn keine Sicherheit für ihre Besitztümer besteht. Dies könnte der Wirtschaft des Landes schaden.
Ohne Stimme: Minderheiten von Verhandlungen ausgeschlossen
Ein weiteres Problem bei den Reformbestrebungen ist, dass traditionelle Gruppierungen und damit die Betroffenen nicht ausreichend in den Diskurs einbezogen werden. „Die Zivilgesellschaft, Akademiker und wichtige Vertreter der Landesverbände boykottieren alle diese Konferenz, weil dort nur Regierungsinstitutionen agieren und es sich lediglich um einen PR-Akt handelt“, kritisiert Hishoono. Auch bei den Aussöhnungs- und Aufarbeitungsverhandlungen der Bundesrepublik Deutschland mit der Regierung Namibias ist problematisch, dass Vertreter der Zivilgesellschaft ausgeklammert werden. Zwar laufen die Verhandlungen zwischen den Regierungen seit 2014, direkte Gespräche mit den Vertretern der Herero werden jedoch von deutscher Seite vermieden. Selbst bei dem Gedenkgottesdienst im August 2018 in Berlin, bei dem geraubte Gebeine der Herero und Nama aus der Kolonialzeit an eine Regierungsdelegation aus Namibia übergeben wurden, sind Repräsentanten der Herero und Nama, die mit der Klage in Verbindung standen, nicht eingeladen worden. Zwar leistet Deutschland die höchste pro Kopf Entwicklungshilfe in Namibia, die Verteilung dieser Gelder sorgt aber für große Unzufriedenheit. Die Sammelklage in New York lässt sich damit auch auf das systematische Ausschließen der Herero und Nama aus dem bisherigen Prozess zurückführen. Denn dadurch wurde den namibischen Minderheiten als Betroffenen des Völkermordes der ihnen zustehende Einfluss und ihre Mitsprache verwehrt. Mit ihrer in New York eingereichten Klage wollen sie eine offizielle Entschuldigung sowie Entschädigungszahlungen von bis zu 35 Milliarden Euro erwirken. Deutschland jedoch beruft sich auf die „Staatenimmunität“: Das Gericht in Manhattan sei nicht zuständig. In Berlin lehnen deutsche Staatsvertreter Schadenersatzzahlungen strikt ab. Zu einer Entschuldigung seien sie aber grundsätzlich bereit. Wie das Verfahren in New York ausgeht, ist offen.
Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch deutsche Kolonialgeschichte
Der deutsche Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer prognostiziert in der Osnabrücker Zeitung weitreichende Folgen einer möglicherweise erfolgreichen Sammelklage: „Wenn es gelingt, Deutschland zu direkten Verhandlungen mit Vertretern einzelner Bevölkerungsgruppen und zu Reparationen zu zwingen, können viele weitere Fälle aus der Kolonialzeit akut werden.“ Ein Erfolg der Klage in New York könnte zu Reparationsforderungen gegen Deutschland auch wegen Massakern während des Maji-Maji-Aufstands im heutigen Tansania führen. Eingeschlossen wären auch Massaker und Strafaktionen in Togo, in Kamerun und in der Südsee. Die deutsche Kolonialgeschichte fordert, dass Verbrechen gegen die Menschheit zu Zeiten der Kolonialzeit aufgearbeitet, anerkannt und entschädigt werden. Koloniale Herrschaftsverhältnisse haben zu Lasten der Kolonien zur Entwicklung der modernen Welt beigetragen – sie sind relevant für die Geschichte des Kapitalismus und der Globalisierung. Die koloniale Intervention hatte sozialgeschichtlich fundamentale Konsequenzen für die ehemals kolonialisierten Gesellschaften. Wer genau hinsieht, weiß: Auch heute sind koloniale Ausbeutungsverhältnisse nicht vollständig verschwunden.
Anke Windisch und Mandy Lüssenhop
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Anklagen“ in der Ausgabe Winter 2018 der Tübinger Redaktionsgruppe von Amnesty International (klicke hier um direkt zur kostenlosen PDF-Online-Ausgabe zu gelangen).
Bildquelle Titelbild: Ein Mädchen vor Bergen, Pixabay (CC)
ANKLAGEN im Internet:
Online-Ausgabe: http://www.anklagen.de
E-Mail: info@anklagen.de
Sie finden das Amnesty-Büro in der
Wilhelmstr. 105 (im Glasanbau, Untergeschoss)
72074 Tübingen
Internet: http://www.ai-tuebingen.deBeratungstermine für Interessenten:
donnerstags um 20 Uhr (während des Semesters)
Es kann auch per E-Mail ein Termin vereinbart werden:
hsg@ai-tuebingen.de