Das zentrale Hörsaal-Gebäude in Tübingen ist besetzt. Mit diesem Beitrag lege ich (primär im zweiten Teil) meine Überlegungen zum Umgang der Wissenschaften mit gesellschaftlich relevanten Fragen dar.
Es geht um das Cyber-Valley
Der große, leere Saal, um den sich hölzerne Doppeltüren zu den Hörsälen befinden, wirkt plötzlich nicht mehr ganz so kalt. Er ist nicht mehr leer – er ist besetzt. Banner und Plakate sind an jeder freien Wand, an jeder gläsernen Tür, an jedem Tisch und an jedem Stuhl befestigt. Flyer liegen verteilt zwischen Brotkrummen, Bananen und veganen Aufstrichen. Der größte Hörsaal des Gebäudes trägt die Nummer 21. Irgendwer hat Matratzen geschleppt und sie beinahe provozierend in die Ecke neben dem Rednerpult gelegt, zerwühlte Kissen und Decken beweisen: Hier wurde heute übernachtet. Ein großer Banner ruft „Hambi bleibt!“. Doch hier geht es nicht primär um Braunkohle, sondern um ein weiteres drängendes Thema des 21. Jahrhunderts: Digitalisierung. Es geht um das Cyber-Valley.
Donnerstag, den 29. November 2018. Nach einer Demonstration am Donnerstagabend besetzen rund 50 Protestierende den Kupferbau – erstmals nach 10 Jahren. Damals ging es um die Bologna-Reform. Sporadisch wurden Plakate angeschafft, ein Mädchen fährt sitzend auf einem Skate-Board umher, wartet. „Jetzt können wir langsam in den Hörsaal 21 gehen“, ruft ein Aktivist mit dunkelbraunen Haaren. In den anderen Hörsälen finden noch Vorträge statt. Mit der Besetzung wollen die Aktivisten eine kritische Öffentlichkeit für das Konzept des Cyber-Valleys schaffen. Die Uni-Zeitung Kupferblau wurde schnell aufmerksam und berichtet in diesem Beitrag über die Forderungen und Probleme, die laut den Aktivisten mit dem Cyber-Valley einhergehen.

Eigene Überlegungen zur Zusammenarbeit in den Wissenschaften
Behände spricht er an, die Interdisziplinarität in den Wissenschaften zu fördern. Was für ein Statement! Seit langem suche ich nach einem Professor, der bei diesen Gedanken auf meiner Seite ist. Die gesellschaftlichen Phänomene, die neben den Geistes-, vor allem auch die Naturwissenschaften betreffen, sind in ihrer Komplexität erst dann vollends begreifbar, wenn Forschungsergebnisse aus verschiedenen Disziplinen einen Beitrag zu ihrer analytischen Erklärung beitragen können. Es ist nicht ausreichend, ein alltägliches Phänomen wie, – nehmen wir das leicht zugängliche Thema Müll, das von zunehmend gesellschaftliche Relevanz ist – aus rein politischen Fragestellungen zu betrachten (wie beispielsweise politische Regelungen im Umgang mit Plastik). Wir brauchen die Wirtschaftswissenschaften, um den Verkauf von Müll an China nachzuvollziehen, wir brauchen die Chemie, um die Folgen der Zersetzung von Plastik im Ozean begreifen zu können, wir brauchen die Physik, um diese Folgen für die Atmosphäre darstellen zu können, wir brauchen die Biologie und die Philosophie, um eine normative Bewertung menschlichen Handelns für die Biodiversität des Planeten zu erzielen.
Keine dieser wissenschaftlich wertvollen Erkenntnisse darf isoliert nebeneinanderher existieren, nur in ihrer Synthese werden wir uns der wahren Komplexität der Phänomene annähern können. Nur so ist es möglich, tatsächlich transformative Ergebnisse zu erforschen. Nur in der Zusammenarbeit können wir den Phänomenen in ihrer Komplexität begegnen. Hierbei stellt sich rasch die Frage nach der Wahrheit. Ist es der Anspruch der Wissenschaften, Wahrheit abzubilden? Bei einer reduktionistischen Herangehensweise gibt es keine absolute Wahrheit. Ich möchte das hier nicht diskutieren, obgleich ich diese für eine zentrale und spannende Frage halte, doch geht es mir um den Anspruch der Wissenschaften, geltende Aussagen zu treffen. Nach meinen Überlegungen ist dieser Anspruch nur dann annähernd vollkommen zu erzielen, wenn Wissenschaften voneinander lernen. Wissenschaften sollten Wissen schaffen und sich nicht in ihren eigenen Methoden und Forschungsergebnissen verbarrikadieren.
Das Selbst-Optimum und die Zeit
Der Professor Rieger-Ladich ist, wie ich, ein Kritiker der Selbstoptimierenden Leistungsgesellschaft (von der Leistungsgesellschaft hat der Erziehungswissenschaftler nicht explizit gesprochen, für mich hängen die beiden Phänomene allerdings miteinander zusammen): Indem wir nur scheinbar aus freien Stücken ständig an uns selbst arbeiten, beuten wir uns letztendlich selbst aus und tragen somit zum Bestehen der Anforderungen vonseiten der Herrschaftsverhältnisse bei. Dieser Artikel ist sicherlich zu kurz, um die Leistungsgesellschaft in ihren positiven- wie negativen Folgen ausreichend zu eruieren. Ich werde mich daher auf einige Impulse beschränken über die es lohnt, einige Zeit zu grübeln. Ist es nicht paradox, dass wir Arbeit mit unserem reinen, individuellen und daher liebenswürdigen Selbst verknüpfen? Worum geht es bei der Selbstoptimierung? Es geht darum, Leistung zu erbringen und Anforderungen gerecht zu werden. Doch die Anforderungen werden, wie Rieger-Ladich referiert, von bestehenden Herrschaftsverhältnissen gestellt. „Was sollen die Nachbarn denken“ mag eine veraltete Aussagen sein, doch in unseren Köpfen gilt sie noch immer: Wir belegen entgegen unserer Interessen den TYPO3-Kurs und reden uns ein, dass wir nur noch nicht erkannt haben, wozu das neue Wissen gut ist, irgendein Personaler wird uns das schon beantworten können. Wie im Wahn sammeln wir Referenzen, hetzen von einem Termin zu einem anderen, handeln nach wenig individuellen Anleitungen, landen im Burn-Out und der Stress macht sich langsam-schleichend in einer scheinbaren Depression offenkundig. Dabei vergessen wir, eine Sekunde inne zu halten und bei allem Optimierungswahn einfach mal an uns selbst zu denken. Wir übersehen das Warum oder wollen uns diese zentrale Frage nicht stellen, weil sie zu lang dauert, weil sie zu Komplex ist. Einfachere Lösungen passen besser in unseren engen Zeitplan. Dabei ist die Frage nach dem Warum die Frage, die wir uns stellen müssen, um nicht im Treibsand einer ethisch fragwürdigen Gesellschaft zu versinken.
Die wissenschaftliche Form des Engagements
Die Kritische Theorie, über die Prof. Rieger-Ladich referiert, sagt vor allem Eines: Der wahre Zweck der Wissenschaft muss immer sein, einen Beitrag zum Wandel der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu leisten. In seinem Vortrag eruiert er zwei Bereiche, in denen gesellschaftlicher Wandel voran getrieben werden kann. Einer dieser Bereiche besteht darin, ordentlich Randale zu machen (wie beispielsweise den Kupferbau zu besetzen) – ein anderer Weg ist derjenige, zu publizieren und eine Analyse der bestehenden Gesellschaftsstrukturen und ihren (ausbeuterischen) Folgen zu betreiben (wie etwa das, was dieser Beitrag bezweckt). Letzterer lässt sich auch als wissenschaftliche Form des Engagements bezeichnen.
Ich dichte nun mündig hinzu, dass es wichtig ist, beides zu kombinieren. Eine analytische Bestandsaufnahme der Probleme und die Entwicklung von Ideen, wie diesen reell und machbar zu begegnen ist, sowie das Aufzeigen von alternativen Möglichkeiten und deren ethische Bewertung sind der Nährboden für den Aktivismus. Dazu braucht es interdisziplinäre Zusammenarbeit! Ohne diese rationale Grundlage ist jeder Aktivismus zum emotionalen Selbstzweck einer Ideologie und damit zum Scheitern verurteilt.
Andersrum braucht jede intellektuelle Arbeit und jede theoretische Bestandsaufnahme, ist sie einmal erfolgt und hat die Probleme offen gelegt, einen Aktivismus, um ihren Zweck, zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen, zu erfüllen. Dazu braucht es Menschen, die den selbst-optimierten Zeitplan in die Tonne treten und sich aktiv den tiefgründigen Warum-Fragen stellen!
Ich plädiere daher dafür, die beiden Strategien immer in einer Wechselwirkung zu denken – und zu tun! Jeder theoretische Wissenschaftler sollte von Zeit zu Zeit seine Bibliothek verlassen und sich aktiv engagieren, sowie jeder Aktivist von Zeit zu Zeit der Falle der Ideologiekritik (die nach Boltanski darin besteht, sich selbst gegenüber den „Unwissenden“ als Überhaben zu betrachten) entkommen muss, um Aufklärung zu betreiben, ohne die Gesellschaft zu entmündigen. Jeder Aktivist muss seinen Aktivismus grundlegend und ethisch fundieren durch die In-Kenntnisnahme und Implementierung der transformativen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Aktivisten im Kupferbau sind dafür ein vorbildliches Beispiel. Sie haben sich zusammen gefunden, um Wissenschaft und Praxis kritisch zu hinterfragen, sich mit zentralen Warum-Fragen zu befassen und sich für einen gesellschaftlichen Wandel zu engagieren.
Mandy Lüssenhop
Dieser Artikel wurde in keinem konventionellen Medium publiziert.
Bildquelle Titelbild: Ein Plakat der Kupferbau-Besetzer, eigene Aufnahme