Irgendwie hat jeder schon einmal davon gehört: Menschen beuten die Ressourcen des Planeten Erde aus. Es findet ein menschenverschuldeter Wandel des Klimas statt, der in seiner Intensität und Geschwindigkeit eben mit keinem jemals statt gefundenen Klimawandel vergleichbar wäre. Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Krankheiten wie Depression oder Burn-Out. Das Wohlstandsniveau war im historischen Vergleich sogar mit Einbezug der Schwellenländer bzw. der nicht-industriellen Ökonomien nie besser. Viele Menschen leben in größerem Wohlstand als die Könige der geschichtlichen Epoche des Mittelalters. Es gibt Armut. Es gibt Krieg. Plastik vermüllt die Weltmeere. Plastik und Monokulturen tragen zu einer signifikanten Reduzierung der Artenvielfalt bei. Einige kennen mehr dieser Fakten, einige weniger. Doch bis auf einige Ausnahmen sind sich alle einig: „Wir müssen etwas tun!“ Leichter gesagt, als getan.
Doch warum eigentlich führen die aufgezählten Kenntnisse und die Übereinstimmung nicht dazu, dass „wir etwas tun“? Es gibt zwei zentrale Handlungshindernisse:
- Wir wissen nicht, woher wir relevantes Wissen bekommen können.
- Wir wissen nicht, wie wir dieses Wissen anschließend nutzen können, um zu handeln.
Dieser Artikel wird Frage auf den Grund gehen, wie sich Wissen generieren und Handlungen ableiten lassen: Wie weiß ich, wie ich weiß?
Wissen durch Fragen
Wer nicht fragt, bleibt dumm.
Tausend tolle Sachen, die gibt es überall zu sehen.
Manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen.
Es ist absolut nichts Neues, dass wir Fragen stellen müssen, um Unkenntnis zu überbrücken, Antworten zu finden und Phänomene zu verstehen, die uns begegnen, aber aufgrund unseres bisherigen Erfahrungshorizonts keinen Sinn ergeben. Auf diese Art und Weise lernen Kinder und nach diesem Schema funktioniert Wissenschaft.
Doch sobald die schützenden Sphären der Schule oder der Universität verlassen sind, erwartet das Berufsleben häufig genug Antworten: Jemand, der ausgebildet ist, hat über einen jahrelangen Bildungsweg die Antworten auf die für die entsprechende berufliche Tätigkeit essentiellen Fragen bereits erhalten. Einfach gesagt: Wer Fragen stellt, hat auf dem Bildungsweg versagt. Wer Fragen stellt, ist für den Beruf noch nicht geeignet. Wer Fragen stellt, hat noch nicht ausreichend gelernt, um für die ökonomische Leistungsgesellschaft nützlich zu sein. Also verstecken wir Unwissenheit in Scham. Das führt manchmal zu komischem Verhalten oder zu dem Gefühl, ein Hochstapler zu sein. Schlimmstenfalls wird gar nichts mehr hinterfragt, sondern einfach hingenommen. Natürlich gibt es gewissen legitime Puffer des Nichtwissens, die sich „Einarbeitung“ und „Weiterbildung“ nennen. Doch sie sind zeitlich beschränkt und anschließende Fragen fallen zurück in die erste Kategorie der nicht-legitimen Unwissenheit.
Das ist zutiefst schade. Nur eine Gesellschaft, die umfangreiche Fragen erlaubt, kann ökonomisch innovativ, sozial und ökologisch nachhaltig sein. Es muss wieder erlaubt sein, Fragen zu stellen: Warum, warum, warum. Was für ein wunderbares Wort.
Das Mittel zum Wissen über Fragen sind Antworten.
Spätestens seit dem digitalen Zeitalter ist Wissen größtenteils kostenlos für die Mehrheit der Gesellschaft verfügbar. Daher ist der Breitbandausbau und der Zugang zu entsprechenden Technologien eine der zentralsten Aufgaben der Zukunft. Doch Zurück in die Vergangenheit, denn dies ist ein Zustand, der in dieser Form nie zuvor existiert hat: Wissen war ein rares gut und lediglich bestimmten Eliten vorbehalten. Die Chancenungleichheit beim Zugang zu Bildung existiert zwar noch heute (dazu wird es noch einen ausführlichen Artikel geben), doch durch eine wahrlich interessante In- und Aneinanderreihung von Erfindungen wurde es möglich, alles existierende Wissen in eine riesige Datenbank zu transferieren und für (theoretisch) jeden zugänglich zu machen.
Im Jahr 1974 fand innerhalb des US-Amerikanischen Militärs zwischen Vincent Cerf und Robert Kahn ein Ideenaustausch über eine effizientere Kommunikationsstruktur statt. Sie entwickelten eine Kommunikationsstruktur, wie u.a. die E-Mail, welche die heutige Basis der Datenübertragung über das Internet ermöglichte.
Fünfzehn Jahre später, an einem warmen Märztag des Jahres 1989, erhob Tim Berners-Lee das Wort. Um der Kommunikationsstruktur des US-Militärs wissend, machte er dem Kernforschungszentrum CERN einen Vorschlag; unwissend um der bahnbrechenden Richtung, in die er die Welt damit lenken sollte. Das Forschungsinstitut war auf zwei Standorte aufgeteilt: Eines in der Schweiz, das andere in Frankreich. Während Distanzen heute keinerlei Kommunikationsprobleme mehr auslösen, stellte genau dieses Problem das CERN lange Zeit vor eine zentrale Herausforderung. Bis Tim Berners-Lee kam und einen Informationsaustausch auf dem Hypertext-Prinzip vorschlug. Der Vorschlag fand breite Unterstützung und nur drei Jahre später wurde die erste Internetseite eingerichtet.
Zur Umsetzung jeder Idee braucht es nur ein einziges Tool: Begeisterung
Begeisterung für Technologie und Wissen verspürten auch zwei junge Studenten der Stanford-University. Zehn Jahre nach Erfindung des technischen Potentials zum World Wide Web fragten sich die beiden Kommilitonen, wie sie die verfügbaren Informationen nicht nur kommunizieren, sondern überhaupt erst entdecken könnten. Am 4. September 1995 gründeten Lary Page und Sergey Brin das Unternehmen Google.Inc. Ihre Erfindung der digitalen Suchmaschine und machte Wissen für jeden zugänglich.
Strukturelle Bildungsungleichheit hat eine Vielzahl von Ursachen, doch sie ist technisch lösbar. Suchmaschinen ermöglichen es jedem, neugierige Fragen zu stellen, und jedem, solidarisch Antworten zur Verfügung zu stellen. Politische Einrichtungen, Wissenschaftler und Journalisten stellen alle ihr Wissen in riesigen Datenbanken kostenlos im Internet zur verfügung. Mit Wikipedia wurde eine digitale Enzyklopädie geschaffen, an der sich jeder beteiligen kann. Wissen als erster Schritt zur Handlung ist heute für alle verfügbar: „Wir“ – als jeder Einzelne – können „etwas tun“.
Wissen durch Reflexion
Fragen stellen und Antworten bekommen ist einfach und geht schnell. Doch Fragen stellen und Antworten verstehen braucht Zeit, eines der wahrscheinlich größten Probleme der Leistungsgesellschaft (dazu wird es noch einen ausführlichen Artikel geben). Das Hinterfragen geht an dem Punkt über das Fragenstellen hinaus, an dem die Antwort nicht einfach hingenommen wird. Neues Wissen muss mit bestehendem Wissen in einen Zusammenhang gebracht werden, um verstanden zu werden. Das Konzept des lebenslangen Lernens beinhaltet einen reflektierten Umgang mit den verschiedenen Antworten. Das führt zwangsläufig zur Selbst-Reflexion.
Die Selbst-Reflexion ist notwendig, um den eigenen Erfahrungshorizont mit dem neuen Wissen in einen Zusammenhang zu bringen: Wie verstehe ich etwas? Doch es kann zu trügerischen Schlüssen führen, wenn dieser Zusammenhang ausschließlich anhand des eigenen Erfahrungshorizonts hergestellt wird. Passiert dies, verliert Wissen automatisch seine Wertfreiheit. Das liegt daran, dass durch die komplexen synaptischen Verknüpfungen im menschlichen Gehirn jedes Individuum seinen eigenen zentralen Mittelpunkt des Universums in sich trägt: das Bewusstsein. Das führt dazu, dass der Mensch sich selbst gelegentlich überschätzen und sich hin und wieder zu wichtig nimmt. Es führt jedoch auch dazu, dass ihm sein Erfahrungswissen alles bedeutet, denn alles, was darüber hinaus geht, ist für das Bewusstsein (vorerst noch) Nichts. Neues Wissen wird daraufhin geprüft, ob es mit dem bisherigen Erfahrungswissen übereinstimmt: Es wird bewertet.
Bücher sind die Quelle des Wissens.
In der Philosophischen wird seit jeher über die große Frage debattiert, ob es so etwas wie objektives, also wertfreies, Wissen gibt – oder ob nicht alle die Welt aus ihrer individuellen Brille heraus betrachten und diese nicht vom eigenen, subjektiven Erleben und Erfahrungshorizont trennen können. Seit dem Positivismus-Streit, der in den späten 1960er Jahren in Deutschland seinen Ursprung fand, hat sich diese Frage in den geisteswissenschaftlichen Methoden der Wissensgenerierung etabliert. Sozialwissenschaftler analysieren Diskurse: den Austausch subjektiver Antworten auf gemeinsame Fragen.
Um ein so aussagekräftiges und reflektiertes Bild wie möglich zu erhalten, ist es notwendig, verschiedene Quellen, Meinungen und Aussagen heranzuziehen, Biografien und historische Kontexte in Betracht zu ziehen und mit verschiedenen Disziplinen und Perspektiven zu verknüpfen.
Denn spätestens seit dem Google erfunden wurde und frühestens seit dem sich denkende Menschen zusammenfanden und sich Philosophen nannten, offenbart sich das Paradox des Wissens: Je mehr Wissen vorhanden ist, desto mehr Fragen stellen sich. Schon Platon stellte fest: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Die Welt ist komplex und alles hängt miteinander zusammen. Deswegen ist es dringend notwendig, niemals aufzuhören, Fragen zu stellen und verschiedene Antworten miteinander in einen Zusammenhang zu bringen, um zu verstehen. Es gibt kein Aus bei der Bildung.
Mandy Lüssenhop
Dieser Artikel wurde in keinem konventionellen Medium publiziert.
Bildquelle Titelbild: Ein exotischer Vogel, Pixabay (CC)