Die Zukunft des unfairen Welthandels

In der Tuebinger Redaktionsgruppe für Amnesty International schrieb ich in der vierteljährlich erscheinenden Ausgabe der „Anklagen“ Zeitschrift aus einer sozialkritischen Perspektive über die Funktionsweise globale Wirtschaftsstrukturen und stellte ein moralphilosophisches Plädoyer für eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft.

Hier findest du die kostenfreie PDF Version der aktuellen Ausgabe.

Achtzehn Stunden war Fiston lebendig begraben. Er ist einer von zwei Millionen Männern, Frauen und Kindern, die in Kongo im Kleinbergbau mit bloßen Händen nach Kobalt und Kupfer für die industrialisierte Welt buddeln. Kobalt ist Kernbestandteil der Akkus unserer Handys oder Elektroautos. Etwa fünfzig Prozent des weltweit abgebauten Kobalterzes stammt aus der Demokratischen Republik Kongo. Dort klettert Fiston täglich vierzig Meter in die Tiefe, buddelt sich barfüßig im Kerzenlicht durch die aufgelockerte Erde. Die Gruben stürzen leicht ein. Sicherheitsmaßnahmen sind für die Creuseure (Buddler) ein Fremdwort. „Mit neun Kollegen saß ich an einer Kobaltader, als plötzlich der Stollen hinter uns zusammenbrach“, erzählt Fiston beinahe beiläufig: Unfälle wie dieser sind keine Seltenheit. „Wir merkten schnell, dass wir uns selbst nicht freibuddeln konnten. Wir schrien laut, damit sie uns finden konnten, verhielten uns aber sonst ruhig, um keine unnötige Energie zu verschwenden.“ Neben Fiston sitzt ein junger Mann, sie kennen sich vom Studium. Der Traum von einem Diplom, das sie vor der körperlichen Arbeit rettet, verbindet sie. Irgendwann bewegt er sich nicht mehr. Er ist tot. Fiston hält den Sauerstoffmangel durch bis Creuseure einer anderen Equipe sie retten und in ein Krankenhaus bringen. Bereits einige Tage später schuftet er weiter, er muss seine Arztkosten bezahlen.

Der von Fiston ausgegrabene Kobalt geht u.a. knapp sechstausend Kilometer nordwärts in einen Industriestaat, dessen Wirtschaftswachstum führend den globalen Welthandel mitgestaltet. Deutschland ist Exportweltmeister. Doch auch in Wohlfahrtsstaaten gibt es ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Armut. Im Jahr 2016 waren 19,7 Prozent der Menschen deutscher Staatsbürgerschaft von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Einkommensschwäche, Unterbezahlung und Arbeitslosigkeit stehen Erschöpfung und Depressionen durch Wettbewerb in den Führungsetagen und Bildungseinrichtungen gegenüber.

„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird…“

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Selten haben wir den Überblick über die komplexen, tieferliegenden Strukturen, die derartige Ungerechtigkeit produziert. Schon Marx, der dieses Jahr seinen 200. Geburtstag feiert, definierte die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse als Basis der Gesellschaft. Strukturen sind einerseits historisch gewachsen, andererseits systemisch, entspringen also Ideen und deren Implementierung über Formen der Wirtschaftsweise und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. So basiert das kapitalistische Finanzsystem, das den globalen Handel derzeit strukturiert, vor allem auf den wirtschaftsliberalen Ideen Adam Smiths. Der Moralphilosoph postulierte 1776 den „Wohlstand der Nationen“: Durch internationale Arbeitsteilung spezialisiert sich jede Nation darauf, was sie am kostengünstigsten produzieren kann. Dadurch sinken Produktionskosten und Preise für Konsumenten. Ein dezentralisierter, freier Wettbewerb garantiert Innovationen. Das Ziel: Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt. In Zeiten des durch Zölle beschränkten Handels war die Idee des Freihandels revolutionär. Durch Gründung der WTO (World Trade Organisation) im Jahr 1995 sollte die Liberalisierung des Welthandels institutionalisiert werden. Wegen der konträren nationalen ökonomischen Interessen und machtpolitischen Erwägungen der 160 Mitgliedsstaaten stocken die sog. „Doha-Runden“ jedoch seit Jahren.

Weniger Multilateralismus, als vielmehr bilaterale internationale Handelsverträge und Wirtschaftsabkommen regulieren den Welthandel. Unternehmerische Wettbewerbsregeln verdrängen Smiths Wohlfahrtsgedanken. Der von ihm postulierte komparative Kostenvorteil klammert die geringen Wettbewerbschancen von ehemaligen Kolonialstaaten (heute die sog. Entwicklungsländer) aus, deren Teilnahme am Welthandel lange unterdrückt wurde. Die Staaten des Nordens legten die des Südens auf die Produktion agrarischer Güter und die Extraktion von Rohstoffen fest. Dies erklärt die Armut rohstoff- oder erdölreicher Nationen, die zusätzlich häufig in regionale Konflikte verwickelt sind, die eine effiziente Beteiligung am wettbewerbsorientierten Welthandel erschweren bzw. verhindern.

Ob Länder zu Anbietern oder Nachfragern von Investitionsgütern werden, ist somit auch durch den dominierenden Wirtschaftssektor determiniert. Industriegüter erzielen größere Exportgewinne als Agrargüter. Indem Industrienationen zusätzlich ihre Märkte eher untereinander öffnen, kommt es zu Umlenkungseffekten: Importe aus Drittländern werden verdrängt zugunsten gleicher Produkte, die durch bilaterale Verträge weniger Handlungsbeschränkungen unterliegen. Industrienationen subventionieren zudem ihre eigenen (Agrar-)Märkte stark, wozu Entwicklungsländer nicht in der Lage sind. Für sie werden Importgüter günstiger als lokale Produkte, traditioneller Landbau ist nicht mehr konkurrenzfähig – auch in den Industrienationen selbst. Wegen der Flächenprämie, nach der Zuschüsse verteilt werden, profitieren Konzerne. Dies führt zur Monopolisierung bestimmter Produkte, was sich auf die Preisstabilität für Konsumenten auswirkt, sowie zu Monokulturen, welche rentabler werden als ökologisch nachhaltigere Anbauformen wie Mischkulturen. Die Massenproduktion wird geführt unter dem Deckmantel, eine rasant anwachsende Bevölkerung zu günstigen Preisen ernähren zu müssen. Folge sind die Verdrängung regionaler Märkte und Überproduktion für den Export.

Übersteigt er die Importe, entsteht ein Handelsüberschuss, Zeichen des Wirtschaftswachstums und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Da Einnahmen automatisch die Ausgaben der Importnationen bedeuten, können nie alle Nationen gleichzeitig einen Exportüberschuss erzielen: Einige Volkswirtschaften müssen mehr investieren, als sie produzieren. So exportieren ehemalige Kolonien unverarbeitete, niedrigpreisige Güter, während verarbeitete Industrieprodukte und Dienstleistungsgüter teuer importiert werden müssen. Sie verschulden sich, reduzieren ihre Staatsausgaben, senken Löhne. Jede Überschussnation exportiert Schulden und damit globale Ungleichheit sowie Armut gleich mit. Um ihren Handelsüberschuss aufrecht zu erhalten, müssen die Exportnationen die Schulden der Importländer bedienen: statt in den eigenen Wohlfahrtsstaat wird in die Importländer investiert. Dieses System des Wirtschaftens schafft Abhängigkeiten und Ungleichheiten in beide Richtungen!

Wer ist verantwortlich?

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In seiner derzeitigen Form lässt sich diese Art des Wirtschaftens neben sozialen Erwägungen allein aufgrund der Ressourcenknappheit nach Expertenschätzungen bereits in den nächsten fünfzig bis hundert Jahren nicht mehr weiter fortführen. In Deutschland gilt seit 1967 das Gesetz zur Förderung des Wachstums der Wirtschaft. Diese Nachkriegsregelung legt den Staat und die Gesellschaft darauf fest, das Wachstum der Wirtschaft zu fördern: Alles, was sich vergrößerte und vermehrte, war automatisch „Fortschritt“. Doch grenzenloses Wachstum ist eine Illusion, die platzt, sobald die kalkulatorische Tragfähigkeit der Erde überschritten ist und die Menschheit insgesamt mehr Ressourcen entnimmt als nachwachsen. Für Deutschland ist jener „Welterschöpfungstag“ dieses Jahr bereits am 2. Mai eingetreten! Wachstums-Paradigma und Konsumverhalten der Industrienationen eignen sich nicht als Muster für alle Menschen der Erde, dafür bräuchte es mehrere Planeten. Würden alle Menschen soviel konsumieren wie in Deutschland, bräuchte es laut dem Global Footprint Network im Jahr 2016 ganze 3,1 Erden. Damit belegt Deutschland Platz 6 der Länder mit dem größten ökologischen Fußabdruck.

Der Fortschrittsgedanke manifestiert sich in der Gesellschaft in einen Leistungsanspruch, der zu Konkurrenz im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt führt. Zahlreiche Studien belegen: Stress, Konkurrenz, Leitungsdruck oder Zeitmangel führen zu Depressionen, Burn-out und anderen Erschöpfungssymptomen. Bereits Marx erkannte diesen Effekt des kapitalistischen Wirtschaftssystems, nannte ihn die Entfremdung des Menschen zu seinen Mitmenschen, den konsumierten aber nicht eigenständig produzierten „Dingen“, Aktivitäten und Natur. Konsum sei die Illusion, glücklich zu sein. Durch Entfremdung fühlten wir uns ständig unzufrieden und unausgeglichen. Der globale Kapitalismus überschreitet ökologische und soziale sowie psychische Belastungsgrenzen und das Wachstums-Paradigma verschiebt seine Effekte wie Smog, die Überdüngung der Landwirtschaft, Atommüll, Plastikmüll im Atlantik, die Ausdünnung biologischer Vielfalt wie Bienensterben, finanzielle Staatsverschuldung oder den Klimawandel auf die Zukunft.

„ … aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll“* 

Marx sah eine Revolution zum Sturz des Kapitalismus als unausweichliche Lösung. Er bezog sich auf Hegels Dialektik (Ideen fordern sich gegenseitig heraus, zeigen ihre Widersprüche und Probleme auf, bringen so ein neues und besseres Paradigma hervor) – und missversteht sie mit fatalen Folgen für jene, die Marx missverstanden und Idealismen engstirnig, radikal und gewalttätig über die Weltgesellschaft zu stülpen versuchten und dabei viel Leid verursachten. Dialektik ist ein Prozess. So muss auch Zukunft gedacht werden. Max Weber sieht die Zivilgesellschaft im Zusammenspiel mit der politischen Kompromiss- und Entscheidungsfindung, die an realen Möglichkeiten der gegebenen Situation erfolgen sollte, in der Pflicht. Auch Kapitalismus lässt sich als Prozess denken, der durch Ideen wie freiem Handel, kreativem Unternehmertum und innovativem Wettbewerb Potentiale für die Zukunft bietet. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie man den Kapitalismus per politischem Beschluss abschaffen will“, lacht Ottmar Edenhofer, Mitglied im Weltklimarat IPCC. „Allerdings müssen wir ihn so reformieren, dass Ungleichheit und Armut überwunden werden und Klimaschutz garantiert wird.“ Die kapitalistische Marktwirtschaft hat eine Zukunftsperspektive nur insoweit sie die Nachfrage nach ressourceneffizienten und nachhaltigen Lösungen unterstützt.

Solche realistischen Lösungsansätze werden bereits gedacht. Beispiele dafür sind die Gemeinwohlökonomie sowie der faire Handel (Fair Trade). Der erste Ansatz schlägt die Förderung der heimischen Produktion und von Kleinbauern sogar als Lösung für das globale Hungerproblem vor. Fair Trade baut auf fünf Handlungsprinzipen: Kooperative Handelspraktiken vermeiden unfairen Wettbewerb, langfristige Beziehungen zwischen Importeur und Produzent verhindern ausbeuterischen Zwischenhandel, ermöglichen Preisgarantien und folglich Bildung und Gesundheitsvorsorge der Kinder. Das Recht auf Gewerkschaftsfreiheit, Verbot der Diskriminierung sowie von ausbeuterischer Kinderarbeit und Zwangsarbeit verbessern die Arbeitsbedingungen. Transparenz, Bildungsarbeit und Umweltschutz sind handlungsleitend für Unternehmen. Die (inter-)nationale Politik muss Fehlanreize umlenken und dabei die sozialen, ökologischen und ökonomischen Interessen von ausgebeuteten Kleinbauern und Creuseuren wie Fiston ebenso wie der derzeitigen Profiteure des Wirtschaftssystems mitdenken.

So entwickelte Deutschland den Nachhaltigkeitskodex, um nachhaltige Anreize für Unternehmen zu setzen. Doch Unternehmen und Organisationen wenden die zwanzig Kriterien des DNK nicht flächendeckend und nur freiwillig an. „Wir brauchen verpflichtende Standards für Klimaschutz sowie Menschen- und Arbeitsrechte, die Ungleichheit reduzieren und für alle gelten. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit werden jedoch im internationalen Wettbewerb als Handelshemmnis verstanden“, erklärt Marion Lieser, Oxfam-Chefin in Deutschland.

Was können wir tun?

Wachstum ist eine Norm ohne Verantwortung – auch auf Seite der Konsumenten. Wir konsumieren nicht nur zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards nach unterschiedlichen relativen Anspruchsniveaus; Konsum bedeutet auch individuelle Selbstverwirklichung. Was uns glücklich macht hängt davon ab, was für Menschen wir sind. Wir müssen uns mit dem Nachhaltigkeitsgedanken identifizieren, er muss zur handlungsleitenden Norm in der Zivilgesellschaft werden. Bei der Umstrukturierung hin zu nachhaltigem Wirtschaften müssen daher die individuellen Bedürfnisse aller gleichwertig befriedigt und verschiedene Lebenswelten und Interessen berücksichtigt werden. Wie können Sozialrechte und Umweltschutz verwirklicht und dabei nachhaltiger Konsum ohne Verzicht ermöglicht werden? Verantwortungsvoller Konsum bedeutet ganz im Sinne von Kants kategorischem Imperativ, die günstigen Preise und die Verfügbarkeit des Überflusses kritisch und selbstreflexiv zu hinterfragen und nachhaltige Alternativen als bestmögliche gesamtgesellschaftliche Perspektive zum Wohle aller zu denken.

Für Schicksale wie jenes des Creuseur Fiston setzt Amnesty International sich derzeit mit einer Aktion und Petitionen ein. Die unternehmerische Sorgfaltspflicht soll in konkrete Maßnahmen für gerechte und sichere Arbeitsbedingungen im Kobaltabbau in Kongo umgesetzt und transparent gemacht werden.

* Georg Christoph Lichtenberg

Mandy Lüssenhop

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „Anklagen“ in der Ausgabe Sommer 2018 der Tübinger Redaktionsgruppe von Amnesty International (klicke hier um direkt zur kostenlosen PDF-Online-Ausgabe zu gelangen). 

Bildquelle Titelbild: Eine Stadt in Iran, Pixabay (CC)

ANKLAGEN im Internet:
Online-Ausgabe: http://www.anklagen.de
E-Mail: info@anklagen.de
Sie finden das Amnesty-Büro in der
Wilhelmstr. 105 (im Glasanbau, Untergeschoss)
72074 Tübingen
Internet: http://www.ai-tuebingen.de

Beratungstermine für Interessenten:
donnerstags um 20 Uhr (während des Semesters)
Es kann auch per E-Mail ein Termin vereinbart werden:
hsg@ai-tuebingen.de

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