Gastbeitrag: Die Flüchtlingschance

Warum die einzige Lösung, die auch moralisch ist, eine europäische sein muss.
Ein Gastbeitrag von Phillipp Mühl

Dieser Tage, Wochen und Monate erreichen uns tagtäglich tausende Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Versklavung fliegen. Wir in Europa tun bis heute so, als wäre dies ein völlig überraschendes Event, eine Entwicklung, die man nicht hätte vorhersehen können. Dabei gab es früh Zeichen, dass bald eine ganze Region destabilisiert sein würde. Seit Anfang dieses Millenniums westliche Militärkräfte in mehreren Staaten des nahen Osten einmarschierten und aus mehr oder weniger guten Gründen versuchten, neue Regierungssysteme zu installieren, können wir einen Verfall von Stabilität beobachten. Spätestens jedoch seit der Irak 2005 begann, in einem Bürgerkrieg zu versinken, und seit früh nach Beginn des arabischen Frühlings 2011 klar wurde, dass die oberflächlich westlich-liberalen Strömungen in ein Nichts führten, hätte klar sein müssen, dass Europa bald vor der Herausforderung stehen würde, die heute so oft als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird. Wir waren nichtsdestotrotz unvorbereitet und müssen nun im Eiltempo Lösungen finden für ein Problem, dass tatsächlich der Schlüssel für wahre europäische Entwicklung sein könnte. Eine Entwicklung, die fundamental auf Werten und Moral gestützt wäre.

Zuweilen bis zum heutigen Tage wird Europa in vielen Augen als etwas angesehen, das einer paradiesischen Insel gleicht. Einer Insel, die völlig abgeschottet von Ereignissen in ihrer direkten Nachbarschaft ein harmonisches Dasein führen könne. Manch Kleingärtner und Kleingeist sieht in Europa den politisch wahr gewordenen Schrebergarten, der, abgegrenzt von einem Zaun und bewacht von Gartenzwergen, eine Idylle inmitten des Graus der Stadt darstellt, eingeebnet zwischen Bahnschienen und Industriegebieten. Solange man nicht hinter den eigenen Zaun blickt, so muss man sich nicht mit der tristen und teils grausamen Realität auseinandersetzen, solange ist das Gartenbeet, die Sonnenblume und das bunte Plastikwindrad die eigene Wirklichkeit. Ob sie den Tatsachen des sonstigen Weltgeschehens entspricht, ist völlig egal. Schließlich geht es mir gut in meinem Mikrokosmos.

Ein derartiger Kleingeist reagiert oftmals mit Empören, wenn plötzlich doch Teile der Realität hinein in das fiktive Idyll sickern. Es ist zuweilen schon unzumutbar, wenn sich der Kleingeist Fragen stellen muss, ob es anderen denn schlechter gehen könnte. Der Gedanke ist schließlich überfordernd und destabilisiert das gedankliche Kartenhaus, auf dem die eigene Wirklichkeit aufgebaut ist. Dementsprechend ist es auch leider keine Überraschung, dass ein Mensch mit der Weitsicht eines Maulwurfs tobend reagiert, wenn denn plötzlich Abbilder von Krieg und Elend die eigene Fantasiewelt zu überwerfen drohen. Umdenken und einen Sinn für das Weite, für komplexe Zusammenhänge des Weltgeschehens entwickeln, das steht nun wirklich nicht auf dem Plan des Kleingeistes.

Und auf diesem Denken reiten viele aktuelle politische Persönlichkeiten des deutschen und auch des europäischen Geschehens mit. Regierungsverantwortliche in Ungarn und Polen insbesondere bauen ihre eigene Legitimation einseitig auf diesem Betonpfeiler des Stumpfsinns auf. Ihr politischer Rückhalt basiert einzig und allein auf einer revisionistischen, mytho-romantischen Ethno-Fantasie, die ein Bewusstsein des „Wir“ und „Die“, des sozialdarwinistischen „Ich“ oder „Du“ etabliert. Eine Politik, die auf Angst und Rückblick, auf Umkehr der Moderne, auf Umkehr der europäischen Einigung, auf Umkehr der Globalisierung und auf Versündigung des Andersartigen, auf Versündigung der Flüchtlinge setzt, ist zwangsläufig eine Politik, die zum Scheitern verdammt ist und der Bevölkerung jegliche Chancen nimmt, in Zukunft besser zu leben, als heute. Diese Politik, deren Fundament nichts weiter ist, als nationalistische Märchen-Romantik, hat leider jedoch ein politisches Potenzial an Sprengkraft, die der Wertegemeinschaft der Europäischen Union (EU) äußerst gefährlich werden kann.

Diese Sprengkraft nämlich ist es aktuell, die die EU auseinanderzieht. Auseinanderzieht in Blöcke

der Solidarität und des Egoismus, in Blöcke der Wahrung der Menschenwürde und in die der Wahrung des nationalistischen Mythos. Aufgrund der Politik der Abschottung, der Politik des künstlichen Erschaffens des äußeren Feindes, nämlich der „fremdbestimmenden“ EU und der fremden Flüchtlinge, scheint es aktuell unmöglich, eine gemeinsame Lösung des Flüchtlingszustroms zu finden. Aktuell sprechen wir von Zahlen von drei bis fünf Millionen Menschen, die bis Ende 2017 hoffen, in Europa einen Platz zu finden, in dem sie nicht tagtäglich darum fürchten müssen, das eigene Leben oder einen geliebten Menschen zu verlieren. Wir sprechen von drei bis fünf Millionen Menschen, die hoffen temporär unter den fast 510 Millionen Menschen Europas einen sicheren Hafen zu finden, bis sich die Lage in ihrer Heimat wieder verbessert. Wir sprechen folglich von einem Äquivalent von 1% der europäischen Bevölkerung, die nicht um Sozialhilfe bitten, sondern um Schutz des eigenen Lebens. Wir sprechen von einer Union, die über 18 Billionen US$ jährliche Wirtschaftsleistung besitzt und sie zu einer der reichsten Regionen der Welt macht.

Das Potential der EU in diesem Belangen ist beinahe schier unermesslich. Da die Möglichkeiten da sind, muss folglich auch geholfen werden. Alles andere wäre vergleichbar mit dem Straftatbestands der „unterlassenen Hilfeleistung“. Allerdings kann die Union ihrer Verantwortung auch nur gerecht werden, wenn alle Mitglieder die Werte leben, auf denen die EU fußt. Wir in Europa haben über tausende Jahre eine demokratische, soziale und liberale Ordnung geschaffen, die Einflüssen des antiken Griechenlands, des antiken Roms und der christlich-judäischen Tradition folgt. Grundlegende Werte sind normative Philosophie auf dem Verständnis, dass Rechte universell für alle Menschen existieren und bewahrt werden müssen, ganz gleich ihrer Herkunft. Nächstenliebe ist die Grundbotschaft, durch die der Messias Jesus Christus das Christentum erschaffen hat. Die Epoche der Erleuchtung gebot dem mündigen Bürger zu reflektieren und erschuf die moderne Moral, in der Kant vom kosmopolitischen Bürger sprach, in der Gegensätze, die auf narrativer Basis beruhen, über Bord geworfen werden müssen. Wenn wir also von Moral sprechen, dann finden wir die Wurzeln dieser Normen in der selben Geschichte, die die politische Rechte versucht als Abgrenzungsmythos zu der islamischen Welt zu benutzen. Einer Welt, die angeblich nicht mit der europäischen vereinbar wäre. Die gesamte Politik der hetzerischen Rechten beruht folglich auf einem Paradox. Auf dem Paradox, dass diese historische Werteentwicklung, die auch zur Aufnahme des Grundrechts auf Asyl in das Grundgesetz beigetragen hat, dafür genutzt wird, um Menschen anderer Herkunft das Asyl vorzuenthalten. Man spricht von Werten, die einen Deutschen grundsätzlich vom Asylanten entscheiden würden, ohne aber diese Werte zu verwirklichen.

Wenn Politiker nun also davon sprechen, dass Kriegsflüchtlinge, die um Leben und Familie bangen, durch ihre Flucht nach Europa die EU und die in ihr gelebten Werte zu zerstören, sind es wahrlich die Politiker selbst, die durch solche Aussagen dabei sind, die EU und die Werte des „Abendlandes“ zu zerstören. Es ist keine Frage des Gutwillens sondern der moralischen Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Allerdings sehen wir in aktueller Zeit, dass Energie nur dazu verwendet wird, Hetze gegen die Flüchtlinge zu betreiben, sie bestmöglich daran zu hindern, Asyl in Europa zu finden und ihre Route so beschwerlich und tödlich wie nur möglich zu gestalten.

Freilich stehen nicht alle Staaten in einer Achse mit den rechtspopulistischen Regierungen aus Osteuropa und lautstarken politischen Gruppierungen in Westeuropa. Allerdings haben Staaten, wie aktuell eben auch Deutschland, Probleme die selbstverständlich nicht zu verleugnenden Herausforderungen und Schwierigkeiten bezüglich Unterbringung und Integration zu meistern. Dies wiederum findet Anklang bei populistischen Stimmen der rechten Ecke und Echo in der ungebildeten Schicht. Dabei sind es, wie vorher beschrieben, die rechts-populistisch regierten europäischen Staaten, die das Ruder über Bord werfen und nun rufen, dass das Boot nicht mehr steuerfähig wäre. Eine Lösung, in der fair auf Bevölkerung und Wirtschaftsleistung Flüchtlinge verteilt werden könnten, ist so naheliegend und doch so fern. Eben weil die Regierungen in Ungarn und Polen somit ihre mythische Legitimation der Volksbewahrer verlieren würden.

Eine solche Form der europäischen Lösung würde gleichzeitig so viele Dilemma lösen. Es würde die Länder allesamt gleich fordern, ohne eines zu überfordern. Im Zuge der Verteilung könnten Fördergelder neu und gezielt kanalisiert werden. Kleinere Mitgliedsstaaten wären nicht am Tisch als Länder, die sich beugen müssten gegenüber dem Willen der großen Staaten, sondern als gleichberechtigte und benötigte Partner, ohne die eine europäische Lösung nicht existieren würde. Man würde als Union geschlossen der Globalisierung begegnen und Konzepte entwickeln können, wie Migrationsbewegungen der Zukunft besonders effektiv zu einer funktionierenden Integration geleitet werden. Der als blutleeren Beamtenapparat betrachteten EU könnten Leben, Herz und gelebte Werte verliehen werden, auf deren Basis sich europäische Identifikation zu entwickeln vermag. Eine Lösung auf europäischer Basis würde nicht zuletzt den Flüchtenden gewährleisten, menschenwürdig in Europa Asyl zu finden. Es würde ermöglichen, dass die Idee des „wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben“, welche die Grundlage von Überlegungen über Obergrenzen bildet, endlich eingestampft werden kann. Im Zuge eines durchdachten europäischen Schlüssels würden Länder sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig nicht überfordert werden, da mit verlässlichen und weniger urplötzlich auftretenden Zahlen von neuen Flüchtlingen gerechnet werden kann.

Die Migrationsbewegung der letzen und kommenden Jahre ist eine Realität, der man sich in Europa gewissenhaft stellen muss. Auch wenn sie viele Herausforderungen mit sich bringt, darf man sie nicht als Gefahr betrachten, aus der Angst und Hass als politische Paradigma abgeleitet werden. Sie ist eine Chance, Europa weiterzuentwickeln und dem fundamentalistischen Islamismus, der so viele Menschen zur Flucht treibt, ein wirkliches Gegenbild von ehrbaren Werten entgegenzustellen. Dies würde letztendlich auch zu der Entziehung der Basisunterstützung von Gruppierungen wie des Islamischen Staates, al-Nusrah, al-Qaida oder anderen Organisationen, die das Prinzip des Jihad für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren, führen, da sie ihren „moralischen“ Anspruch, der Penetration des Weste entgegenzuwirken, verlieren würde. Mitgefühl, Hilfe und Solidarität sind die einzigen Mittel, unsere Welt weiterzuentwickeln. Nur solidarisch schaffen wir es in Europa, Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

Philipp Mühl

Dieser Artikel wurde in keinem konventionellen Medium publiziert.

Bildquelle Titelbild: Picos de Europa in Spanien, Pixabay (CC) 

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